Häufig ist nicht erklärbar, was uns gut tut.
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- 08. Oktober 2019
- fritz
Häufig ist nicht erklärbar, was uns gut tut.
Ungewöhnlich langsam trottet er, schon nach wenigen hundert Metern kehrt er um, drängt zurück nach Hause. Dort angekommen, legt er sich hin und schläft ein. Abends frisst er nicht einmal sein Futter. Es ist augenfällig, Zibo, unserem Hund, fehlt was, er ist wohl krank. Immerhin trinkt er ein bisschen was. Am Tag danach wirkt er noch schlapper, kommt nicht einmal aus seinem Korb, sein Futter bleibt stehen. Erst gegen Abend schleppt er sich langsam zu uns.
Wir beschliessen, ihn am folgenden Tag dem Tierarzt zu zeigen. Wir wollen wissen, was los ist. Dazu kommt es aber nicht, denn tags darauf ist Zibo putzmunter, wieder quirlig wie immer. Auf dem morgendlichen Rundgang zieht er wieder kräftig, kläfft jeden an, den er wahrnimmt. So sind wir es uns gewöhnt.
Was ihm zugestossen ist, wissen wir freilich nicht. Er auch nicht. Es interessiert ihn auch nicht. Er hat sein Unwohlsein klaglos und geduldig ausgestanden. Wäre er ein Mensch, würden wir sagen, er hat sich seiner Krankheit fatalistisch hingegeben, fast schon geopfert, aber gut überlebt.
Wenn ihm unwohl ist, zieht er sich zurück. Still und leise leidet er.
Wir Menschen könnten das auch, tun es aber nicht. Schliesslich sind wir aufgeklärt, Herr über unser Leben und nicht Sklave unseres Organismus. Nur Kleinkinder verhalten sich ähnlich wie Zibo. Ihnen bringen wir jedoch bald bei, wie wir Erwachsenen nach den Ursachen zu suchen und einen Doktor zu rufen. Zwei Beispiele:
1. Kurz nach seiner Pensionierung verliert Herr Pfenninger seine krebskranke Frau. Zwei Jahre später stellt er zunehmende seltsame Muskelzuckungen und -schmerzen fest. Seinen rechten Arm vermag er kaum mehr anzuheben und auch nicht mehr zu strecken. Er verliert auch laufend Gewicht. Sein neuer Hausarzt zaudert nicht lange und lässt ihn wissen, er leide an den typischen Symptomen einer Altersdepression. Das sei ja auch verständlich. Er verschreibt ihm ein starkes Antidepressivum. Die unangenehmen Symptome verstärken sich in der Folge. Der Hausarzt mag das aber nicht hören.
In seiner Verzweiflung wendet sich der schüchterne Witwer an einen Orthopäden in der Nachbarschaft. Dieser hört ihm zu, sieht ihn an und überweist ihn an einen Neurologen mit starkem Verdacht auf ALS, amyotrophe Lateralsklerose, einer teuflischen, meist zum Tode führenden degenerativen Erkrankung des Zentralnervensystems. Die Diagnose erweist sich als richtig.
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine gefährliche Erkrankung des Zentralnervensystems.
2. Der britische Schiffsarzt James Lind (1716 – 1794) möchte herausfinden, warum er auf den Expeditionen über die Weltmeere bis zu einem Viertel seiner Seeleute kläglich sterben sieht. 1747 führte er mit zwölf Erkrankten den ersten wissenschaftlichen Therapieversuch durch. Alle erhielten die gleiche, schiffsübliche Grundnahrung, Gruppen von jeweils zwei überdies unterschiedliche Zusätze. Die beiden, die Orangen und Zitronen bekamen, erholten sich schnell, die anderen darbten weiter.
Lind sah, dass Zitrusfrüchte seiner Mannschaft offenbar gut tun. Erklären konnte er seine Beobachtung freilich nicht. Heute wissen wir, dass die Seeleute mehrheitlich an Skorbut litten. Bei anhaltendem Mangel an Vitamin C verläuft diese Krankheit tödlich. Erst 1931 gelang es Biochemikern, dieses Vitamin zu isolieren.
1747 führte der Schiffsarzt James den ersten wissenschaftlichen Therapieversuch durch. Dabei fand er heraus: Zitrusfrüchte halten seine Seeleute gesund.
Wir mit unseren Rückenmarkverletzungen müssen uns sowohl Zibo wie auch James Lind und Herrn Pfenninger zum Vorbild nehmen: Wir kennen die Ursache unseres Krankheitsbildes haargenau. Auf die Therapie zur Wiederherstellung warten wir aber noch lange. Daher nehmen wir wie Zibo gewisse Fehlfunktionen, die uns Rückenmarkverletzung und Älterwerden nun mal bescheren, am besten einfach hin und leben mit ihnen. Trotzdem halten wir wie Herr Pfenninger Augen und Ohren immer offen, um Neues erfahren zu können. Und wir erforschen wie James Lind, was uns zum Wohle gereicht. Warum es uns gut tut, brauchen wir nicht zu wissen.