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Gesellschaft

Wir sind Rollstuhlfahrer

Im öffentlichen Raum konkurrieren wir mit Fussgängern und Radfahrern.

Im öffentlichen Raum konkurrieren wir mit Fussgängern und Radfahrern.

Schleichend hat sich ein neuer Name für uns eingebürgert. Wir sind sogenannte Rollstuhlfahrer. Andere sind Tramfahrer, wieder andere Velofahrer, Rollbrett- oder Ferrari-Fahrer. Das mag uns etwas befremden. Schliesslich benützen wir den Rollstuhl nicht aus Witz, sondern aus schierer Not. Die Bezeichnung emanzipiert uns gleichwohl, denn sie befördert uns zur sozialen Anspruchsgruppe. Wir sind auf Augenhöhe mit anderen «Fahrern», aber auch den Fussgängern. Das gibt uns das formale und moralische Recht, unsere Interessen und Ansprüche ebenso lauthals anzumelden, wie das andere tun.

Regionalzug Bahnhof Zürich: Der Zugang ist praktisch ebenerdig, jedenfalls recht einfach.

Dabei hilft uns das am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) zusätzlich. Es ist allerdings nicht mehr als ein Rahmengesetz, eine theoretische Grundlage gewissermassen. In der Praxis setzen wir uns jeden Tag mit unseren Mitmenschen, unter ihnen auch anderen «Fahrern», auseinander. Wir müssen uns immer wieder finden, denn auch sie verfolgen ihre Interessen konsequent. «Francescolife» beschreibt das in seinem Beitrag «Intoleranz und Aggressivität der Fussgänger» eindrücklich. Die Masse der Fussgänger erdrückt uns unter Umständen förmlich: im Einkaufszentrum, vor dem Postschalter, an grossen Festen.

Sogar der Zugang zum öffentlichen Verkehr ist konfliktträchtig. Das BehiG sieht unter anderem vor, dass er innert 20 Jahren, also bis Ende 2023, «behindertengerecht» einzurichten ist. Die Verkehrsbetriebe und die städtischen Tiefbauabteilungen sind daran, das umzusetzen. Nach aussen hin scheint es, dass diese Zielsetzung unbestritten ist. Tatsächlich gehen diese Arbeiten jedoch schleppend voran. In Zürich ist nach wie vor jedes zweite Tram unzugänglich. Wesentlich besser sind im Allgemeinen U- und S-Bahnen sowie die Regionalzüge. Sie sind meistens ebenerdig zugänglich – nicht den Rollstuhlfahrern zuliebe, sondern damit wirklich keiner stolpert und verunfallt. Dort geht, was andernorts grosse Mühe bereitet.

Tramstation Opernhaus in Zürich: Perfekt für alle Rollstuhlfahrer und für die in Lack- und Stöckelschuhen.

Allerdings sind die Randsteine an etlichen Tramstationen inzwischen ebenfalls so erhöht, dass wir barrierefrei hinein- und hinausrollen können. Basel ist im Rückstand, wie mir scheint. Die viel benutzte Tramstation «Opernhaus» in Zürich ist ein angenehmes Beispiel im guten Sinne: Zusammen mit uns können jetzt auch die elegant eingekleideten Besucher des Musentempels in Stöckel- und Lackschuhen mit rutschiger, vornehm-dünner Ledersohle gefahrlos ein- und aussteigen, ohne eine Stufe überwinden zu müssen.

Im Hintergrund, aber doch vernehmbar räuspern sich aber die Velofahrer. Die Verträumteren und weniger Fahrtüchtigen unter ihnen berühren mit ihren Pedalen den ungewohnt hohen Randstein: Dies im Bemühen, zwischen der Tramschiene, in die sie nicht fallen wollen, und dem Strassenrand die Spur zu halten. Klappt das nicht, versuchen sie noch auszuweichen, aber sie sind bereits so verkeilt, dass sie stürzen.

Auch die Fussgänger zeigen sich etwas entrüstet. Unbeschwert über die Strasse zu huschen, erheischt an diesen Stellen mehr Sportlichkeit, als sie vorgesehen haben. Auch sie könnten hinfallen oder ausrutschen, womöglich so teuflisch, dass sie zu Rollstuhlfahrern werden! Dann werden sie bald fordern, die Tramstationen seien etwas schneller als bisher barrierefrei zu gestalten.

Zum Verzweifeln: Die vollumfänglich sanierte Tramstation Basel SBB ist funktional ungenügend.

Viel helfen wird das indessen nicht. In unseren Gesellschaften gehören wir alle unterschiedlichen, meist mehreren Anspruchsgruppen an. Viele von uns sind auch Autofahrer, wir sind Mieter oder Wohneigentümer und aus Überzeugung vielleicht Naturschützer. Jede dieser Gruppen verfolgt ihre Interessen zielgerichtet. Im Vergleich zu ihnen sind wir Rollstuhlfahrer edelmütig, grossherzig und rücksichtsvoll: Wir verzichten darauf, uns über die weissen Leitlinien für Sehbehinderte zu beklagen, obschon sie die Vorderrädchen unserer Rollstühle abbremsen und unbequem rattern lassen.

Je grösser die jeweilige Anspruchsgruppe, desto leichter setzt sie sich durch. Die Mehrheit hat recht. An dieser Gesetzmässigkeit kommen wir nicht vorbei. Es ist absehbar, dass wir nie an jeder Station ebenerdig ins Tram gelangen. In anderen Lebensbereichen werden unsere Wünsche dagegen übererfüllt. Ein Beispiel sind kulturelle Veranstaltungen, so etwa in der Oper, aber auch an Popkonzerten: Wir haben meistens hervorragende Plätze zum halben Preis, obschon das so nicht im Gesetz steht.

In der Summe ist der Interessenausgleich, in unserem Falle der sogenannte «Nachteilsausgleich» gewährleistet. Geben wir uns also versöhnlich, auch wenn es manchmal anstrengend ist.

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