«Eine Krankheit, die man nicht behandeln kann»
- 3 Minuten Lesezeit
- 23. September 2019
- fritz
«Eine Krankheit, die man nicht behandeln kann»
Jörgli, mein Vetter, ist drei Jahre jünger als ich. Seit Kindesbeinen bin ich verbunden mit ihm. Besonders gescheit sei er, betonten meine Eltern immer. Deswegen dürfe er im Gegensatz zu mir auch etwas eigenwillig sein. Längst habe ich mich an seine Schrullen und seinen ätzenden Spott gewöhnt.
Das jüngste Muster, das er bei einem kürzlichen Nachtessen in der städtischen Bierhalle von sich gab, lautet so: «Jede Epoche hat ihre Krankheitsbilder. Vor 150 Jahren begannen sie die Luft zu verpesten, pferchten die Menschen in Fabrikhallen und ernteten Tuberkulose. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte die Raserei auf den Autobahnen ein, und sie brachen sich das Genick.» Dazu verrenkte er sich und blickte hämisch auf die Räder meines Rollstuhls. Die Kellnerin brachte die ersten zwei Glas Bier.
Ich schüttelte den Kopf und dachte mir, der angeblich kluge Jörgli, seines Zeichens Doktor der Mathematik, weiss nichts ausser seinen Zahlen und Formeln. Ich nahm einen ersten grossen Schluck, bevor ich zu dozieren begann: «Schon um 2700 vor Christus beschrieb Imhotep, ein Gelehrter des Pharaos, in seinem sogenannten Wundenbuch die Querschnittlähmung, und zwar als ‹Fall 33›. Er schloss mit der lapidaren Feststellung: ‹Eine Krankheit, die man nicht behandeln kann›.»
«Diese Schlussfolgerung blieb bis in unsere Zeit die Lehrmeinung», fuhr ich fort, «obschon ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Erforschung des zentralen Nervensystems wieder aufkam. So lesen wir in Meyers Konversations-Lexikon von 1889 im letzten Satz zum Begriff ‹Querschnittlähmung›: ‹Sie gibt, da sie meist von schweren und unheilbaren Gewebserkrankungen des Rückenmarks abhängt, in den meisten Fällen eine schlechte Prognose.› Die Ursache der Lähmungen war also erkannt.» Jetzt bekam jeder seine Bratwurst mit Rösti, dazu ein weiteres Bier.
Ich verschlang ungewöhnlich schnell, was auf dem Teller war, und setzte meine Ausführungen fort: «Vor allem der Spanier Santiago Ramón y Cajal (1852 – 1934) und der Italiener Camillo Golgi (1843 – 1926) trieben die Erforschung des zentralen Nervensystems voran. Mit ihren Experimenten wiesen die beiden Mediziner als erste nach, dass unsere Nerven aus einem Zellkörper, dem Neuron, und einem Fortsatz, dem Axon, bestehen und über Verbindungen – den sogenannten Synapsen – ein zusammenhängendes System bilden.»
Ich fuhr fort: «Dank der später als ‹Golgi-Färbung› bezeichneten Methode erkannten Cajal und Golgi auch die Bedeutung der Gliazellen. Diese Zelltypen bilden ein Stützgerüst für die Neurone und sorgen für die gegenseitige elektrische Isolation der Nervenzellen. Sie sind aber auch massgeblich daran beteiligt, bei einer Verletzung des Nervengewebes das neuerliche Auswachsen der Axone zu verhindern. Diese Gliazellen begünstigen also die Entstehung einer Querschnittlähmung. Das alles seit Jahrtausenden, mein lieber Jörgli, und nicht erst seit 1945!» Schliesslich fügte ich an: «Für ihre Arbeiten erhielten die beiden Forscher 1906 den Nobelpreis.»
«Das alles spulst du auswendig ab wie ein Weihnachtsverslein», spottete er. Ich antwortete: «Du kannst ja deine Formeln auch alle auswendig.» Da gab er sich beleidigt. Stumm blickte er in die gut gefüllte Bierhalle. In der Bank verehrten sie ihn, den Mathematiker mit seinem beneidenswerten Gefühl für Zahlen. Was andere nur dank abgespeicherten langen Formeln mühselig am PC erarbeiteten, rechnete er im Kopf aus.
Ich nutzte seine Verlegenheit und doppelte nach: «Übrigens sind auch Infektionskrankheiten so alt wie die Menschheit. Tuberkulose ist eine von vielen. Neu ist dagegen, dass Menschen zugrunde gehen, weil sie deine Finanzprodukte kaufen».
Da brauste er auf: «Nein, neu ist, dass die Menschen verblöden. Deshalb kaufen sie meine durchgerechneten Produkte, statt selbst was zu schaffen mit ihrem Geld.»
Meine Frage, ob sich auch diese neurologische Krankheit nicht behandeln lasse, beantwortete er mit «wahrscheinlich».