Der querschnittgelähmte Prateek Khandelwal hat zwei Start-up-Unternehmen gegründet, um die Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer:innen in Indien zu verbessern
- 5 Minuten Lesezeit
- 28. Mai 2024
- Merita Maliakkal
Prateek Khandelwal ist ein 38-jähriger Ingenieur aus Bangalore, Indien. Er leitete erfolgreich sein eigenes Unternehmen und besass eine eigene Wohnung in der Stadt. Zudem plante er, sich mit seiner langjährigen Freundin zu verloben.
Prateeks Leben änderte sich im Alter von 28 Jahren, als er die Treppe eines Rohbaus hinunterstürzte und querschnittgelähmt wurde.
«Ich hatte alles, wovon ich in meinen Zwanzigern geträumt hatte. Ich lebte mein Leben, aber der 30. Mai 2014 hat alles verändert.»
Menschen im Rollstuhl sind in Indien sozial isoliert
Einige Zeit später kehrte Prateek mit seinem Rollstuhl auf die Strasse zurück, entschlossen, der Welt zu zeigen, dass er trotz des Unfalls derselbe geblieben war. Doch er konnte nirgendwo hin. Prateek erkannte, dass öffentliche Orte in Indien wie Restaurants, Banken, Supermärkte usw. für ihn nicht zugänglich waren. Seine Umgebung war nicht auf jemanden in seiner Situation vorbereitet.
«Es waren nicht nur Restaurants. Auch Einkaufszentren, Parks, Geldautomaten, Bahnhöfe und Flughäfen waren nicht barrierefrei. Das ist zweifellos eines der grössten Probleme, mit denen Indien heute konfrontiert ist. Es ist Zeit, dass die Gesellschaft versteht, dass Menschen mit Behinderungen deshalb jeden Tag ihres Lebens eingesperrt sind.»
Inklusion ist in Indien kein Fremdwort. Das Land hat 2007 das Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention BRK) ratifiziert. Im indischen Gesetz über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2016 heisst es in Kapitel II, dass die Regierung «sicherstellt, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf Gleichheit, ein Leben in Würde und die Achtung ihrer Integrität in gleicher Weise wie andere haben». Dennoch ist Indien wie viele andere Entwicklungsländer noch weit von einer barrierefreien oder inklusiven Gesellschaft entfernt.
RampMyCity macht Restaurants zugänglicher
Laut einem Artikel in The Times of India forderte Prateek Restaurants auf, Rampen zu installieren, was einige auch taten. Bei einer Inspektion stellte er jedoch fest, dass die Rampen Konstruktionsfehler aufwiesen, die sie unbrauchbar machten. Sie waren entweder zu steil, endeten abrupt oder stiessen auf eine Wand.
Diese Beobachtung veranlasste ihn, Rampen zu entwerfen, herzustellen und zu installieren. Die Rampen sollten sich harmonisch in die Architektur der Gebäude einfügen und die Zugänglichkeit gewährleisten.
Zu diesem Zweck gründete Prateek 2018 das Sozialunternehmen RampMyCity. Ziel der Initiative war es, Restaurants für Menschen im Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen, indem tragbare Rampen zur Verfügung gestellt werden.
Gemäss der renommierten indischen Zeitung The Hindu hat RampMyCity bis 2022 die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen an rund 300 Orten verbessert. Dazu gehören Arbeitsplätze, Wohngesellschaften, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, öffentliche Parks, Polizeistationen, Geldautomaten, Supermärkte, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Restaurants, Hotels und Regierungsgebäude.
Eines der neusten Projekte von RampMyCity ist der barrierefreie Zugang zu den beliebten Tempeln Big Bull, Basavanagudi und Sri Vinayaka in Bangalore. Diese sind neu mit Rampen, Behindertenparkplätzen und Beschilderungen ausgestattet. Informationen zu weiteren Projekten gibt es auf den Facebook-Seiten von RampMyCity und Prateek Khandelwal.
Im folgenden Video präsentiert Prateek einige Gebäude, die dank RampMyCity zugänglich sind:
Dieses Video, unterlegt mit indischer Popmusik, zeigt ein Einkaufszentrum, das neu mit Rampen ausgestattet ist:
RampMyCity bietet auch Inklusionstraining an
Prateek stellte immer wieder fest, dass das Restaurantpersonal nicht für behinderte Gäste sensibilisiert war. Die Angestellten waren nicht in der Lage, angemessen mit den Gästen zu kommunizieren oder ihnen zu helfen. RampMyCity bietet deshalb auch praktische Schulungen für Mitarbeitende im öffentlichen und privaten Sektor an. Ziel ist es, dass die Teilnehmenden ein Bewusstsein entwickeln, um ihre Einstellung und ihr Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen anzupassen.
Die Schulungsprogramme beinhalten Sensibilisierungslektionen über die «Dos und Don'ts» sowie praktische Lektionen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Dabei geht es beispielsweise darum, Reservierungen entgegenzunehmen, über eine Rampe zu helfen oder einen Transfer durchzuführen. Das folgende Video gibt einen Einblick in das Inklusionstraining:
«Don’t blame them, train them.» (DE: «Mach' ihnen keine Vorwürfe, sondern bilde sie aus.»)
Motto des Inklusionstrainings von RampMyCity
Prateek Khandelwal setzt sich für Inklusion in Indien ein
Das indische Nationale Zentrum zur Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen verlieh Prateek im Jahr 2021 eine Auszeichnung für Barrierefreiheit und universelles Design.
Laut Prateeks LinkedIn-Konto haben UNICEF, die WHO und die Weltbank die Arbeit von RampMyCity anerkannt. Ausserdem berichteten indische und internationale Medien über Prateeks Geschichte und die Gründung von RampMyCity, wie der folgende (englische) News-Beitrag zeigt.
Prateeks Engagement ist nicht auf seine Start-ups beschränkt. Er setzt sich in Vorträgen, Interviews und sozialen Medien für eine veränderte Wahrnehmung ein. Prateek möchte die Barrieren überwinden, mit denen Menschen mit Behinderungen in Indien konfrontiert sind. Hört euch diesen Podcast mit Prateek oder seht euch den folgenden TED-Talk an (beide auf Englisch):
«Meine Idee ist es, Indien barrierefrei und inklusiv zu gestalten. Die Gesellschaft muss verstehen, dass Barrierefreiheit kein Privileg ist, sondern eine Dienstleistung, die wir brauchen. Wir sind die Lösung.»
Prateek hat nicht nur beruflich, sondern auch persönlich viel erreicht. Nach seinem Unfall sagten ihm die Ärzte, er müsse sich darauf einstellen, für den Rest seines Lebens im Rollstuhl zu sitzen. Doch nach mehreren Jahren intensiven Trainings und Physiotherapie – er trainierte acht bis zehn Stunden täglich – steht Prateek wieder auf eigenen Beinen und geht mit Hilfe von Krücken.
Wart ihr schon einmal in Indien? Welche Erfahrungen habt ihr mit Barrierefreiheit in einem Entwicklungsland gemacht?