To Homepage
Porträts & Geschichten

Gehört Langeweile zum Leben?

Welche Erkenntnis uns Katzen voraus haben

Welche Erkenntnis uns Katzen voraus haben

An kalten, nassen Wintertagen liegt er gelangweilt auf dem Heizungsrost.

«Wie wäre es,», fragten wir einen befreundeten Psychologen mal, «wenn unser Kater sein silbergraues Pelzgewand nicht hätte?» Er hielt einen Moment inne, antwortete dann aber sehr bestimmt: «Er wäre klüger.» Sein silbergraues Fell schützt ihn vor Kälte und Feuchtigkeit gut genug, dass er bequem überleben kann, ohne viel nachdenken zu müssen, ergänzte er. Wir Menschen brauchen dagegen Grips, um uns durchschlagen zu können.

Wir Rollstuhlfahrer brauchen noch mehr Hirngrütze, wenn wir ein interessantes Leben führen wollen. Uns fehlt ja nicht nur das schützende Haarkleid, sondern noch vieles mehr. Die kalten und kurzen Wintertage offenbarten das einmal mehr besonders deutlich. Unser grauer Kater verteidigt zu wärmeren Zeiten kampflustig sein Revier und fängt listig viele Mäuse. Bei Kälte, wenn alles erstarrt ist und sein Pelzmantel nur noch knapp genügt, langweilt er sich augenfällig. Er bleibt im Hausinnern, liegt stundenlang schlapp auf der Heizung, läuft uns nach, miaut krächzend und bettelt. In der Öde versucht er, in der Küche Essen zu stehlen, und hat dazu erstaunliche Fertigkeiten entwickelt. Wesentlich mehr kriegt er mit seinem Köpfchen freilich nicht zustande.

Wir können wenigstens was lesen, wenn's draussen garstig ist.

Verglichen mit ihm sind wir im Vorteil. Wir können lesen, meditieren, uns an Musik erfreuen, ins Kino und Theater gehen, reisen, uns mit Freunden treffen, schlemmen, Karten spielen oder einfach in die Glotze starren und uns sanft betrinken oder bekiffen. Wir können auch hart arbeiten, uns in Gremien einbringen, politisch engagieren und uns im Behindertensport ertüchtigen. Es bleibt aber der schale Nachgeschmack, dass die Auswahl eingeschränkt ist. Das Gefühl der Leichtigkeit mag oft nicht aufkommen. Vieles ist nur bedingt möglich und zudem mit erheblichem Aufwand verknüpft. Die Kraft, ihn zu stemmen, bringen wir nicht immer auf. Wir fühlen uns deshalb eingeengt, etwas betrogen, vielleicht sogar beschissen. Es kommt der Zeitpunkt, da wir uns eingestehen müssen, dass wir uns unterschwellig langweilen, zweifeln und unzufrieden sind.

Trotz unserer grossen Köpfe sind wir dort angelangt, wo der grau behaarte Kleinschädel in garstigen Zeiten steht. Wie er haben wir zwar mit Sozialleistungen, moderner Infrastruktur, immer besseren Hilfsmitteln und Assistenz ein recht dickes Fell, das uns vor lebensbedrohlichen Gefahren schützt. Um ganz froh zu werden, braucht es indessen mehr. Selbst noch so viele Hirnwindungen führen nicht zwingend zu grenzenloser Freude. Die Wege zur Glückseligkeit sind verschlungen. Nicht einmal die hellsten Köpfe finden sie einfach so. Unser Kater weiss das schon lange, während uns Menschen diese Einsicht beelendet.

In diesem Elend beginnen wir zu grübeln. Vielleicht müssen wir Tunnels der Langweile durchqueren, um am anderen Ende das Licht der freudvollen Lustigkeit wahrzunehmen und im Glück aufzugehen – fragt sich unser grosser Kopf.

Stern inaktivStern inaktivStern inaktivStern inaktivStern inaktiv