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Porträts & Geschichten

In der Klinik sind wir wie Kleinkinder!

Mit Witz und Charme werden wir wieder mündig.

Mit Witz und Charme werden wir wieder mündig.

Der Scanner misst schamlos, was wir spüren: Den Blaseninhalt

Wer von uns schätzt sie schon, diese Untersuchungen unter dem Vorwand der sogenannten «Objektivierung»? Wir spüren förmlich, dass sie uns nichts Neues erhellen werden. Zudem münden sie nicht selten in eindringlich vorgetragene Belehrungen, gepaart mit alarmistischen Androhungen, was uns alles widerfahren kann, wenn wir sie nicht befolgen. Ein typisches, vergleichsweise harmloses Beispiel ist der sogenannte «Bladder Scanner», der dank seinem Ultraschall vorwitzig unseren Blaseninhalt abtastet: Wie bei den Sicherheitskontrollen an den Flughäfen überführt er gnadenlos jeden von uns, der zu viel potenziell keimerregenden Restharn in seiner geschundenen, neurogenen Blase hat. Dabei wissen wir längst, dass ihre Steuerung beeinträchtigt ist und können recht genau abschätzen, wie voll oder halbleer sie wohl ist.

Kontrastmittel in meiner Blase. Wie vor 40 Jahren fasst sie auch heute 495 Centiliter.

Trotzdem ist es heute der Scanner und nicht wir, der bestimmt, ob wir die Hose gleich ganz runterziehen dürfen, um uns einer angeblich heilend wirkenden Katheterisierung hinzugeben und somit Allerschlimmstes abzuwenden. Unbeachtet bleibt dabei, dass auch im Zeitalter vermeintlicher Schamlosigkeit es niemanden wirklich erbaut, ständig entblösst zu sein und die Blicke vorwiegend auf sein Geschlecht gerichtet zu sehen. Mutmasslich macht es aber auch niemanden wirklich froh, in beruflicher Mission seine lieben Mitmenschen immer wieder katheterisieren zu müssen.

Gleichwohl kommt es im klinischen Alltag, namentlich in Reha-Zentren für Träger neurogener Blasen, regelmässig zu genau solchen, im Grunde allseits unerwünschten Episoden. Sie wären leichter zu handhaben, wenn die Götter das Ausleben sexueller Begehrlichkeiten und das Wasserlassen zwei verschiedenen Organen zugewiesen hätten. Bis der Himmel uns diesen Wunsch allenfalls erfüllt, ist es aber hilfreicher, wenn wir spielerisch und schmunzelnd unsere Rollen hinterfragen, um uns auch mit runtergezogener, womöglich abgesägter Hose auf Augenhöhe mit den in Weiss gekleideten Pflegenden zu bewegen.

Wir, die Patienten, erdulden Leid, suchen Rat und brauchen Hilfe. Unbewusst schlüpfen wir so in die Rolle des Säuglings oder des Kleinkinds. Dem Kindlein treten wir seit jeher ganz selbstverständlich in die Intimsphäre, begegnen ihm aber durchwegs mit Respekt – aus Furcht, was falsch zu machen, aus Sorge, ihm weh zu tun und immer im fürsorglichen Bestreben, ihm seine Seelenruhe zu bewahren und Wohlbefinden zu schaffen. Versagen wir, weil wir selbstherrlich versuchen, über es zu verfügen, kriegen wir das sofort und ungefragt zu spüren: Das Kindlein schreit aus voller Kehle, es heult und sperrt sich mächtig – so wie bei vielen von uns ruppige und unbeholfene Berührungen sofort starke Spastik einschiessen lassen. Dann geht nichts mehr. Wir müssen warten, bis sich die Muskulatur und die Stimmung entspannen, unter Umständen drängt es sich gar auf, andere Bezugspersonen zu holen.

Der Charme des Säuglings betört uns alle.

Handeln wir dagegen wohltuend, so antworten Kinder schon als Säuglinge mit ihrem sprichwörtlichen Lächeln. Befreiend ehrlich, schon fast schamlos kommt es ihnen über die Lippen. Das ergreift uns, das ist es, was wir als warme Ausstrahlung, als verzaubernden Charme wahrnehmen. Mit ihm der betört das Kindlein seine Mitmenschen so, dass es sie auch lenkt. Der vereinnahmende Charme des hilflosen kleinen Wesens lässt Ruhe, Zufriedenheit und Gelassenheit aufkommen. Es herrscht eine Atmosphäre des Gebens und Nehmens. Auch mit Geschrei, Geheule und ans Spastische grenzender Sperrigkeit zwängt das Kleinkind seinen Willen durch. Allerdings stört es damit sein soziales Umfeld und sich selbst. Die Stimmung ist aufgereizt.

Zwischen Charme, dem Spiel mit der Ausstrahlung und hinderlicher Sperrigkeit mit verzogener Miene verläuft die Grenzlinie. Es liegt vorwiegend an den Bezugspersonen, in der Klinik den Pflegenden, alles daran zu setzen, dass ihre Schützlinge nicht in die sperrige Zone gleiten und glauben, sich wehren zu müssen. Umgekehrt sind es die Umsorgten, die mit angenehm ausstrahlender Gestik, allenfalls aufmunternden Worten und dem Willen zur Mitwirkung helfen, dass sich alle im behaglicheren Bereich wähnen. Sie verwandeln so die Aura kühler Professionalität in wohlige menschliche Wärme und ernten damit Zuneigung, vielleicht sogar Bewunderung.

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