Der Rollstuhl belastet lebenslänglich, auch wenn die meisten von uns im Prinzip zufrieden sind. Die Sozialforschung geht diesem Zwiespalt nach.
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- 01. September 2020
- fritz
Der Rollstuhl belastet lebenslänglich, auch wenn die meisten von uns im Prinzip zufrieden sind. Die Sozialforschung geht diesem Zwiespalt nach.
Ob wir allein, in einer Partnerschaft oder einer anderen Gemeinschaft leben: Die Last der Querschnittlähmung müssen wir so schultern, dass sie weder uns noch andere zusammenbrechen lässt. Mehrheitlich gelingt uns das, aber nicht immer. Dazu sechs Lebensbilder. Sie sind nicht erfunden, aber so dargestellt, dass sie niemanden blossstellen.
Die Frau des Paras ist verzweifelt
In einem alpinen Skiort betreibt Mark eine Zimmerei. Im Winter arbeitet er nebenbei als Skilehrer und Tourenführer. 2013 verunfallt er dabei und zieht sich eine Paraplegie auf Höhe L2 zu. Ohne Rollstuhl läuft nichts mehr. Bettina, seiner Frau, bereitet das Mühe. Sie betont, was er alles nicht mehr kann, wie einschneidend dieses Trauma für sie und die ganze Familie sei. Im Sommer 2020 erhängt sie sich. Mark und die drei Kinder im Pubertätsalter bleiben zurück.
Alain überfordert sich – dem Beruf und der Freundin zuliebe
Alain, ein blitzgescheiter junger Biologe, lässt sich durch seine Th1-Rückenmarkverletzung nicht beirren. Nach der Reha arbeitet er 100 Prozent. An einem Kongress lernt er eine lebenslustige Kollegin kennen. Sie verlieben sich und ziehen zusammen. Beide arbeiten viel und mit Freude. Abends gehen sie oft ins Theater oder an Konzerte, am Wochenende sind sie immer unterwegs oder haben Besuch. Im Alter von 45 erleidet Alain einen Kreislaufkollaps und stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.
Schliesslich ermatten die beiden
Wie durch ein Wunder überlebt Peter einen Mordanschlag. Eine Kugel hat seinen sechsten Brustwirbel durchbohrt. Er hat eine komplette Paraplegie. Sein Studium beendet er trotzdem schnell, zieht es aber vor, künstlerisch tätig zu werden. Er hat einigen Erfolg. Erst mit 50 heiratet er Anna. Unerwartet stellen sich ab dann Komplikationen ein. Nach und nach verliert Peter seine Selbständigkeit, Anna ihre Stelle. Seither sind die beiden ehedem zupackenden Menschen vorwiegend mit sich selbst beschäftigt.
Laszlo arbeitet, seine Frau pflegt ihn
Laszlo, ein hoher Tetraplegiker, arbeitet als Anwalt den ganzen Tag und ist sehr erfolgreich. Wenn er in seinem Elektrorollstuhl ausfährt, dann nur, um seine nebenberuflichen Verpflichtungen in Stiftungen und Vereinen zu bestreiten. Seine Frau arbeitet als Logopädin, lässt es sich aber nach ihren Worten «nicht nehmen, seine ganze Pflege zu besorgen». Den Haushalt bestreitet Laszlos Schwester, die im selben Haus wohnt.
Er kriegt die Kurve nicht
Anton, der gelernte Maurer, stürzt mit 32 vom Baugerüst auf den Rücken. Als Paraplegiker kann er seinen geliebten Beruf nicht weiter ausüben, ins Büro will er nicht. Er stellt sich so an, dass sie ihn nicht nehmen. Jassen ist die einzige Freude, die ihm bleibt. An den Spielabenden fliesst immer viel «Kaffee fertig». Wiederkehrende Komplikationen vergällen ihm das Leben. Jedes Jahr verbringt er mehrere Wochen in der Klinik. Sie ist sein zweites Zuhause.
Für Frauen ist die Last noch schwerer
Die heitere und unternehmungslustige Cristina erleidet 1978 auf einer Reise einen dramatischen Unfall. Der verletzte siebte Halswirbel durchsticht ihr Rückenmark. Hans, ein guter Pfleger, verliebt sich in sie. Sie vereinen sich, Cristina wird Mutter. Nach einigen Jahren läuft Hans davon. Die schon etwas ältere Tetraplegikerin bleibt heiter, erzieht ihren Sohn und ist inzwischen Grossmutter. Die erforderliche Assistenz rund um die Uhr hat sie gut organisiert. Alleine ist sie gleichwohl.
Gut verteilte Lasten sind halb so schwer
In allen sechs Fällen ist die Last der Querschnittlähmung ungleich verteilt. Bettina scheint sich einzubilden, sie allein stemmen zu müssen, und zerbricht an diesem Trugbild. Alain gaukelt sich selbst und seinem Umfeld vor, sie sei leicht tragbar, bis er zusammenbricht. Peter und Anna drückt das Gewicht, je älter sie werden, zu Boden.
Laszlo muss mit massiven Einschränkungen leben; im Alltag entlastet ihn seine Frau so, dass er sich beruflich womöglich besser entfalten kann, als ihm das sonst je gelungen wäre. Anton ist dagegen auf sich gestellt, fühlt sich beruflich entmündigt und vermutlich unglücklich in seinem Dasein. Die Aufenthalte in der Klinik wirken fast schon befreiend. Cristina schultert die Last seit der Trennung mutterseelenallein. Die lustige Frau hat viele Freunde. Nur der Partner, der ihr Gemüt pflegt und dem sie ebenfalls was bieten könnte, fehlt.
Solche Ungleichgewichte schaffen Not, sorgen immer wieder für Anspannung. Die Sozialforscher sprechen von «Stressoren». Dazu der Beitrag zur SwiSCI-Pro-Well-Studie über Partnerschaft von Menschen mit Querschnittlähmung.
Inzwischen liegen weitere umfassende Befragungsresultate vor. Wie wir leben, was uns quält, was uns freut – das alles ist in einem 130-seitigen Bericht zusammengefasst, herausgegeben von der Schweizer Paraplegiker-Forschung. Im nächsten Beitrag greife ich einige interessante Erkenntnisse auf.