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Porträts & Geschichten

Wärme bedeutet Wohlbefinden

Bei aller Verschiedenheit sind wir uns einig: Frostige Kälte ist nichts für uns Rollstuhlfahrer. Geniesst die Sommermonate!

Bei aller Verschiedenheit sind wir uns einig: Frostige Kälte ist nichts für uns Rollstuhlfahrer. Geniesst die Sommermonate!

Es heisst ja, wir Para- und Tetraplegiker seien ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Menschen mit unterschiedlichsten Lebensläufen, Neigungen und Interessen. Trotz dieser Vielfalt hat mir noch keiner je gesagt, es sei ihm wurst, wenn’s kalt ist. In diesem Punkt sind wir uns alle einig: Gefangen in unseren Rollstühlen, lässt uns frostige Kälte erstarren.

Wir sind ihr ausgeliefert, sie schmälert die Lebensfreude. Sie bindet Kräfte, weil sie die Muskulatur sinnlos versteift. Das schwächt uns. Dabei bräuchten wir mehr Kräfte, als wenn es warm wäre. Die Kälte durchdringt uns, steigt von den Händen in die Arme hoch. Sie sind schlecht durchblutet, es wird noch mühseliger, den Rollstuhl anzutreiben. Mich schaudert, wenn ich nur daran denke. Die klirrende Kälte hat sich eingekerbt in meinem Gedächtnis.

wärme kälte

Wer immer sitzt und die Hände frei haben muss, kann sich nicht so kleiden.

Die oft zu hörende, altkluge Redensart «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung» wirkt auf mich wie Hohn. Aus ihr leitet sich eine weitere beliebte Scheinlogik ab: «Vor Kälte kannst du dich schützen, vor Wärme nicht». Sie trifft nur zu, wenn ich mich mit Hilfe Dritter einkleide wie ein Astronaut und vor lauter Wärmepolster kaum mehr bewegen kann.

Da quäle ich mich lieber schlotternd, aber selbständig durch den Winter und gewöhne mich im Sommer an die nach und nach aufkommende Hitze. Diese wird erst unangenehm, gar bedrohlich, wenn sie unsere Körpertemperatur übersteigt. Unsere eigene menschliche Wärme ist uns mit ihren 37 Grad seit jeher vertraut und tut uns gut. Wir alle kennen sie aus der feuchten, mütterlichen Grotte, in der wir vom winzigen Zellklüngel zum kleinen Menschenkind herangewachsen sind. Bei der Geburt rutschen wir in eine uns fremde, nur noch 20 Grad warme Umgebung: Wir erleben den ersten Kälteschock, das erste Trauma. Wehrlos liegen wir da und können nur noch heulen.

wärme schwanger

Die Wärme im mütterlichen Leib hat uns alle geprägt.

Im späteren Verlauf unseres Lebens fanden wir uns nach Eintritt der Rückenmarkverletzung plötzlich wieder an diesem Punkt. Reglos lagen wir irgendwo, der Kälte ausgesetzt, im eigentlichen und im sprichwörtlichen Sinne. Mehr denn je sehnten wir uns nach kuscheliger Wärme, nach der lebensbejahenden Sonne.

Die Sonne heizt die Luft auf, bringt Wärme. Warme Luft ist leichter als kühle Luftmassen. Umgeben von ihr, fühlen wir uns auch leichter, kleiden uns leichter, fügt sich alles geschmeidiger, strömt das Blut bis in die kleine Zehe. Sonne bedeutet auch Licht. Es bewahrt uns vor Schwermut, erweitert das Blickfeld und drängt Ängste zurück. Unsere Nöte verflüchtigen sich, wir können sinnieren, in unseren Köpfen bilden sich Lustgefühle und Flausen. Das alles erleben wir im sonnenreichen warmen Sommer, ohne dass wir uns anzustrengen brauchen.

Anstrengungen sind immer eine Wärmetherapie. Wohl deshalb schätzen es die Menschen im kühlen Norden, körperlich zu arbeiten und sich sportlich zu trimmen, bis sie vor Schweiss triefen. Sogar wir mit unseren Einschränkungen suchen das wärmende Glück in der Anstrengung: Heldenhaft wagen wir uns auch bei Eiseskälte ins Freie, gehen einkaufen und drehen eine kühle Trainingsrunde in unserem rollenden Freiluftgefährt. Durchfroren kehren wir zurück hinter den Ofen und ernten Wärme. Das wärmende Blut durchdringt uns und heizt uns bis in die äussersten Spitzen auf. Hätten wir uns nicht geregt, wäre diese Wirkung ausgeblieben.

wärme sport

Sport ist Wärmetherapie, verrät der Schweiss auf seinem Shirt.

Die Vorzüge der wärmenden Sonne schätzte schon Diogenes, der griechische Philosoph, mutmasslich geboren im Jahre 413 vor Christus. Er lebte nicht im Rollstuhl, sondern in einer Tonne, wie in Mutters Bauchhöhle. Klug und frech sinnierte er dort tagein, tagaus, erzählt die Legende. Seine Denkanstösse reizten auf. Er galt als ätzender Spötter, wurde als Hundephilosoph beschimpft, ging aber als bedeutendster Vertreter des Kynismus in die Philosophiegeschichte ein.

Wohl um 340 v. Chr. erwies ihm sogar Alexander der Grosse, der grösste Feldherr der damaligen Zeit, die Ehre. Respektvoll und demütig fragte der mächtige Herrscher Diogenes, womit er ihm dienen dürfe. «Geh mir ein wenig aus der Sonne», antwortete der Philosoph. Mehr wollte er nicht. Alexander war so gerührt ob dieser Bescheidenheit, dass er gesagt haben soll: «Wäre ich nicht schon Alexander, so wäre ich gerne Diogenes.»

wärme diogenes

«Geh mir ein bisschen aus der Sonne», wünschte sich Diogenes von Alexander dem Grossen.

Als Mittel zur Gestaltung eines unabhängigen Lebens in wohliger Sonnenwärme hat allerdings auch Diogenes seine Nebenwirkungen. Wer sich an ihn hält, riskiert, schrullig zu werden und den einen oder andern Freund zu verlieren.

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