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Porträts & Geschichten

Partizipation, Teilhabe

Unseren Rechten stehen schöne und weniger schöne Pflichten gegenüber.

Unseren Rechten stehen schöne und weniger schöne Pflichten gegenüber.

«Wenigstens das Gesicht könntest du dir selbst waschen», schlug die eine Betreuerin vor. Ihre Kollegin nutzte die Gunst der Stunde und hakte nach: «Und den Oberkörper auch gleich, das wäre doch was? Du willst ja auch ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen.»

Bruno wohnte seit einigen Wochen in den Schulungs- und Wohnheimen Rossfeld in Bern. Wir schreiben das Jahr 1978. Mit einer kompletten Tetraplegie auf Höhe C5 kam der damals 28-jährige direkt aus dem Paraplegikerzentrum (PZ) in Basel. Die Selbsthilfe hatte bei ihm wenig gebracht, er fühlte sich von den Therapeuten bedrängt und schikaniert. Es stand auch bald fest, dass er nur in einem Heim würde bestehen können. Zeitraubende Selbständigkeit hätte ihm nichts genützt, argumentierte er. Als Lehrling, der eine Umschulung zum kaufmännischen Angestellten vor sich hatte, musste er morgens um 8 Uhr an seinem Arbeitspult sein.

Nun erlebte er, dass sie ihn auch im Rossfeld behelligten, wenn auch weniger aufsässig als im PZ. Mit seinem Charme erwirkte er, dass die Betreuerinnen ihre Vorschläge nicht weiter verfolgten. Die Selbstbestimmung bedeutete für ihn auch, sich etwas verwöhnen zu lassen. Selbstbestimmt und bestimmend setzte er das durch.

Heute würde das nicht mehr so glatt verlaufen. Die Selbstbestimmung ist unverändert ein hohes Ziel, eines der höchsten sogar. Der Weg zu ihr führt nach aktuellem Verständnis über das Konzept der Partizipation, deutsch Teilhabe. 2001 führte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff im Zusammenhang mit Menschen, die eine Behinderung haben, ein. 2006 floss er in die 50 Artikel umfassende UNO-Konvention über die Rechte Behinderter. Bis heute haben 175 Staaten, 2014 auch die Schweiz, dieses Übereinkommen unterzeichnet.

un konvention

Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die UNO-Generalversammlung die Konvention über die Rechte Behinderter.

Bei uns haben sich aus diesem Konzept in der Praxis vier Handlungsprinzipien entwickelt, nämlich: Gehörtwerden, Mitreden, Mitgestalten, Mitentscheiden. Dabei erweist sich namentlich der Anspruch auf Mitgestaltung als zwiespältig. Wer mitgestaltet, muss auch Hand anlegen. Für Bruno würde das bedeuten, dass ihm die Betreuerinnen unter Berufung auf die Partizipation nur in den Lebensbereichen helfen, die er nachweislich nicht alleine bestreiten kann. Alles andere ist ihm als Mitgestaltender überlassen. In anderen Worten: Was irgendwie geht, muss er selbst besorgen. Nur dann führt er ein selbstbestimmtes Leben.

Der Verabschiedung der UNO-Konvention über die Rechte Behinderter gingen fünf Jahre an intensiven Diskussionen und Verhandlungen unter Betroffenen, Fachleuten und Politkern voraus. Dabei schälte sich klar heraus, dass die «Exklusion» oder Separation von Menschen mit Behinderung unbedingt zu vermeiden ist. Behinderungen sind gemäss der Konvention Teil der menschlichen Vielfalt. Seither ist «Inklusion», also Einbezug Aller, das hehre Ziel.

exklusion integration inklusion

Mit der UNO-Konvention über die Rechte Behinderter gewannen Begriffe wie Teilhabe, Chancengleichheit und Inklusion an Verbindlichkeit.

Unter diesem Einfluss sind nicht nur in der Region Bern, sondern in der ganzen Schweiz Wohnangebote entstanden, die sich für Menschen mit Behinderung eignen. Sie finden sich in durchmischten Überbauungen. Bruno nutzte das und zog in eine solche Wohnung. Dort liess er sich auch eine angepasste Küche einrichten. Endlich konnte er wieder selbst kochen. Als ehemaliger Koch war ihm das wichtig. Im Heim war das nicht vorgesehen. Es galt der Menuplan, zu dem er nichts zu sagen hatte.

Unter den neuen Lebensbedingungen wusch sich Bruno Gesicht und Oberkörper gerne selbst. So kam er – wenngleich indirekt – auch nach seinem Verständnis zu mehr Selbstbestimmung.

kochen im rollstuhl

Die alltäglichen Verrichtungen sind für Behinderte meistens belastend. Für manche ist Kochen aber ein Vergnügen.

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