Im vierten Teil unserer Blogserie über Wissenschaft geht es um die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis: Wie läuft dieser Prozess ab – und warum dauert er oft so lange?
- 4 Minuten Lesezeit
- 10. Februar 2023
- claudia.zanini
Im vierten Teil unserer Blogserie über Wissenschaft geht es um die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis: Wie läuft dieser Prozess ab – und warum dauert er oft so lange?
Wenn neue Forschungsergebnisse vorliegen, müssen sie noch einige Hürden überwinden, bevor sie in die klinische Praxis umgesetzt werden.
Die Wissenschaft ist in unserem Leben immer mehr präsent. In Zeitungen, Fernsehen und Online-Medien werden wir mit Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Studien konfrontiert. Die Schlagzeilen sind oft plakativ und verkünden bahnbrechende Erkenntnisse wie: (alle Links auf Englisch)
- «Neue Injektionstechnik kann die Reparatur von Rückenmarksverletzungen verbessern»
- «Die Entdeckung von ‹Zellporen› gibt Millionen von Patienten mit Hirn- und Rückenmarksverletzungen Hoffnung»
- «Wissenschaftler regenerieren Neuronen bei Mäusen mit Querschnittlähmungen und Sehnervenschäden»
- «Nutzen von Stammzellen zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen bewertet. Eine realistische Hoffnung für Patienten mit Querschnittlähmung»
Gerade wenn wir unter einer schweren Beeinträchtigung leiden, hoffen wir, dass diese Erkenntnisse schnell in die klinische Praxis umgesetzt werden, damit wir so bald wie möglich davon profitieren können.
Viele dieser Studien befinden sich jedoch noch in einem frühen Stadium. Wie im ersten Teil dieser Blogserie erwähnt, haben Forschungsergebnisse, auch wenn sie vielversprechend sind, einen langen Weg von der experimentellen Forschung an Mäusen bis zur Erprobung am Menschen. Und auch wenn eine Behandlung in klinischen Studien gute Ergebnisse gezeigt hat, ist es noch ein weiter Weg, bis diese Erkenntnisse in die klinische Praxis umgesetzt werden.
In diesem Blogartikel erläutern wir den Weg von wissenschaftlichen Ergebnissen in die klinische Praxis. Die Schritte und Hürden zu kennen, kann uns helfen zu verstehen, warum die Umsetzung so komplex ist. Es hilft aber auch, die Arbeit der Gesundheitsfachpersonen zu würdigen, die sich dafür einsetzen, dass wir von den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren, und die zugleich unsere Bedürfnisse und Präferenzen respektieren.
Wie Forschungsergebnisse ihren Weg in klinische Leitlinien finden
Für Forschungsergebnisse ist der Weg in die klinische Praxis oft lang. Er kann Jahre dauern. Wie im zweiten Teil dieser Serie erwähnt, wird selten eine einzige Studie in die klinische Praxis integriert. Die Ergebnisse einer Studie müssen in anderen Studien wiederholt werden, und die Ergebnisse all dieser Studien müssen gesammelt, analysiert und zusammengefasst werden; erst dann lassen sich Empfehlungen für die klinische Praxis entwickeln.
Diese Empfehlungen haben häufig die Form von klinischen Leitlinien – also Dokumente, in denen beschrieben wird, wie Patienten zu behandeln sind. Sie beruhen auf den besten verfügbaren Erkenntnissen sowie auf systematischen und transparenten Konsensverfahren, an denen zahlreiche erfahrene Gesundheitsfachpersonen und Forschende aus aller Welt teilnehmen (s. Europarat, 2002). Diese Dokumente werden oft von öffentlichen oder staatlichen Institutionen initiiert und von internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften (z. B. International Spinal Cord Society) oder nationalen oder lokalen Institutionen (z. B. Schweizer Paraplegiker-Zentrum) verfasst.
Hindernisse für die Übernahme von Leitlinien in den klinischen Alltag
Die Umsetzung von nationalen und internationalen Leitlinien in den klinischen Alltag ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Sie wird von mehreren nicht-wissenschaftlichen Faktoren beeinflusst, z. B. die Regierungspolitik, das Kosten-Nutzen-Verhältnis und die Kostenerstattung durch die Krankenkassen.
Politische und wirtschaftliche Aspekte sind aber nicht die einzigen Hürden; weitere Probleme sind Ausbildung und Zeit. Gesundheitsfachpersonen müssen die neuen Leitlinien kennen und sich mit den empfohlenen Behandlungen vertraut machen. Trotz der Vielzahl von Studien, die jeden Tag in vielen Gesundheitseinrichtungen erstellt werden, basiert die Behandlung von Patienten in der Tat nicht nur auf wissenschaftlichen Ergebnissen; stattdessen spielen klinische Erfahrung und historische Entwicklungen eine grosse Rolle.
Ausserdem geben klinische Praxisleitlinien aus verschiedenen Ländern manchmal widersprüchliche Empfehlungen. In solchen Fällen müssen Ärzte in Kenntnis der Sachlage entscheiden können, welche Behandlung angemessener ist (s. Oxman et al., 2008).
Leitlinien berücksichtigen nicht die individuelle Situation des Patienten
Schliesslich sind Leitlinien oft sehr eng gefasst; um sie umzusetzen, müssen die Fachpersonen jedoch auch die spezifische Situation des Patienten berücksichtigen. So gibt es beispielsweise mehrere Leitlinien zur Vorbeugung von Druckstellen bei Querschnittlähmung – aber lassen sich die empfohlenen Verhaltensweisen in das Leben der Person integrieren und zugleich auch andere Gesundheitsprobleme und Anforderungen an das Selbstmanagement berücksichtigen? Eine Leitlinie könnte lauten, sich regelmässig im Rollstuhl aufzustützen – aber was ist, wenn die Person unter Schulterschmerzen leidet? Oder eine Leitlinie könnte eine Operation mit anschliessender dreimonatiger stationärer Rehabilitation vorschreiben – aber was ist, wenn der Patient invasive Eingriffe vermeiden möchte, um sein Familienleben zu erhalten?
Wie wir sehen, ist die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis kein linearer Prozess. Viele Faktoren spielen eine Rolle bei der Entscheidung, ob und wie sie zum Wohle der Patienten genutzt werden. Jeder Patient ist einzigartig: Patienten haben vielleicht ähnliche klinische Situationen, aber oft ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Vorlieben. Der Arzt muss diese berücksichtigen, wenn er ein medizinisches Verfahren vorschlägt; kein «automatisiertes» Verfahren kann festlegen, was für jeden einzelnen Patienten das Beste ist. Deshalb ist die Interaktion zwischen Ärzten und Patienten für jede medizinische Entscheidung von zentraler Bedeutung.
Referenzen:
- European Science Foundation (2011). Forward Look: Implementation of Medical Research in Clinical Practice. Link (pp. 30-31, “Major issues”)
- European Science Foundation (2012). Implementation of Medical Research in Clinical Practice. Science Policy Briefing No. 45. Link
- Europarat (2002). Entwicklung einer Methodik für die Ausarbeitung von Leitlinien für optimale medizinische Praxis. Empfehlung Rec(2001)13 des Europarates und Erläuterndes Memorandum. Link
- Oxman A et al. What should clinicians do when faced with conflicting recommendations? BMJ 2008;337:a2530. Link