Im Alter müssen auch wir uns nochmals anpassen
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- 28. März 2020
- fritz
Im Alter müssen auch wir uns nochmals anpassen
Alt ist, wer sich im Leben an veränderte körperliche Bedingungen anpassen muss, habe ich unlängst an einer Tagung von ParaHelp und der Klinik Balgrist gelernt. Nach dieser Definition sind es funktionale Kriterien, die bestimmen, ob wir alt sind, und nicht unsere Jahresringe. In den Industriestaaten erreichen wir diesen Zustand in der Regel mit 80, 85 Jahren. Ich habe darüber berichtet.
Das Thema geht mir nach. Die funktional begründete Altersregel gilt nämlich für uns, die wir nach Eintritt unserer Rückenmarksverletzung schon mal einen solchen Anpassungsprozess durchgespielt haben, gleichermassen. Auch wir sind erst alt, wenn wir unsere Lebensgestaltung noch einmal umkrempeln müssen.
Typischerweise äussert sich das, indem wir für alle Alltagsverrichtungen noch mehr Zeit beanspruchen, vermehrt auf die Hilfe Dritter zurückgreifen müssen und mit dem Rollstuhl weniger aktiv sind. Bei uns Rückenmarksverletzten und anderen Körperbehinderten setzt das früher ein, weil uns schon kleinste funktionale Verschlechterungen stark beeinträchtigen. Was gestern zur Not noch ging, ist heute nicht mehr möglich.
Ich selbst transferiere nicht mehr wie früher. Seit einigen Jahren rutsche ich rüber, statt den Rumpf anzuheben und rüber zu schwingen. Ins Auto komme ich nur noch mit Hilfe. Ich ziehe mich auch anders an als früher. Die Hemden bleiben im Schrank hängen. Poloshirts tun’s auch, wenn ich einigermassen schick daherkommen will. Ein Unterhemd und drüber ein Pulli mit Rundkragen sind noch einfacher. In manchem bin ich wieder dort, wo ich nach meinem Unfall vor 42 Jahren angefangen hatte.
In der Stadt rolle ich nicht mehr Kilometer weit wie früher. Auch die Trainings-Spazierfahrten sind kürzer geworden. Dafür benütze ich vermehrt den SwissTrac oder verweile in meinem schönen Haus – im Sommer auf der Gartenterrasse, im Winter hinter dem Ofen. Schleichend hat sich mein Alltag seit einigen Jahren verändert. Dabei bin ich erst 65.
Ich erlebe das mit Wehmut. Etwas Trost finde ich bei unserem inzwischen 16 Jahre alten Kater. Er trinkt deutlich mehr als früher. Das muss seinen Grund haben, vielleicht sind seine Nieren geschädigt. Dieses Problem habe ich nicht, frohlocke ich. Andere, durchaus vergleichbare dagegen schon: Beim Treppensteigen ist augenfällig, dass er sein rechtes Sprunggelenk schont. Es scheint arthrotisch zu sein. Er springt auch langsamer und vorsichtiger. Seine Kräfte lassen nach, er ist mager geworden, die Mäuse im recht grossen Garten leben wieder sicherer.
Vor allem hört er nicht mehr so gut. Deswegen miaut er herzergreifend laut, so wie schwerhörige Menschen oft dazu neigen, schon fast zu schreien. Der ätzende Klang seiner Stimmbänder dringt durch das ganze Haus und hilft ihm, sich selbst wahrzunehmen. Uns zieht er wie von ihm gewollt in den Bann. Er verschafft sich im wörtlichen und übertragenen Sinne Gehör.
Um stets zu wissen, was im Haus geschieht, hält er sich vermehrt an Orten auf, die ihm den nötigen Überblick verschaffen. Im Erdgeschoss ist es der Zeitungsstapel in der Küchenecke. Von dort aus sieht er, wer ins Haus kommt, überblickt das ganze Wohnzimmer und nimmt wahr, was in der Küche geschieht. So hält er sich verfügbar, um jederzeit gefüttert werden zu können. Als geschwächter Jäger freut er sich heute mehr denn je über unsere Nahrungsmittelhilfe.
Im Obergeschoss liegt er am liebsten unter meinem Schreibtisch. Von dort aus blickt er immer häufiger etwas melancholisch durchs Fenster in die Ferne, ohne etwas zu verpassen. Er braucht den Kopf nur leicht zu drehen, um zu sehen, was im Raum nebenan und im Treppenhaus geschieht, ob sich eine Türe öffnet. Dank geschickt ausgewählten, zudem sicheren Standorten gleichen seine Augen aus, was die Ohren nicht mehr leisten.
So hält sich auch unser Kater an die Empfehlung der Referentin, immer «ressourcenorientiert zu handeln». Massgeblich ist, was wir können, noch können, nicht das, was wir nicht mehr können. Die Ressourcen sind unsere Fähigkeiten. Sie nehmen zwar ab, doch sie bleiben eine Stütze, wenn wir sie geschickt einsetzen.