Unsere Möglichkeiten sind eingeschränkt. Trotzdem können auch wir übermütig werden.
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- 05. Juni 2019
- fritz
Unsere Möglichkeiten sind eingeschränkt. Trotzdem können auch wir übermütig werden.
«Wenn der Mensch auch noch fliegt, so überschreitet er das ihm gesetzte Mass», lehrte uns der feinsinnige Dozent in einer philosophischen Vorlesung vor 40 Jahren. Ich war damals in einer Publizistikausbildung in Zürich. Die These verhallte, niemand im Saal regte sich.
Heute wäre das anders. Mehr denn je fragen sich die Menschen, was und wie viel sie sich anmassen dürfen – namentlich auch, ob sie fliegen sollen. Regula Rytz, die Präsidentin der Grünen Partei der Schweiz, fliegt «wahrscheinlich nie mehr», sagt sie. Auf die Frage von SRF-Moderator Roger Schawinski, ob denn alle anderen Menschen auch verzichten müssen, antwortete sie: «Es ist keine Frage des Verzichts. Ich mache etwas anderes.»
Übertrage ich die obige These auf uns Rollstuhlfahrer, so leite ich ab: Wir unterschreiten das uns gesetzte Mass. Wir können uns ja nur im Rollstuhl fortbewegen, nicht einmal schreiten, geschweige denn fliegen. Zuweilen fühlen wir uns schon fast gefangen.
So machen wir eben was anderes. Was eigentlich? Im gelebten Leben ist das weniger klar, als es am Gesprächstisch scheinen mag. Wir sind ja dazu gezwungen, nachdem sich das uns gesetzte Mass ohne eigenes Verschulden verkleinert hat. Der Slogan in der neuen Werbekampagne der Schweizer Paraplegiker-Stiftung mahnt das an: «Wir sitzen unschuldig». Er spielt darauf an, dass es jeden treffen kann.
Uns hat’s getroffen, und wir versuchen, das zurückgestutzte Mass wieder zu erweitern. Je kreativer wir sind, desto besser gelingt uns das, desto besser können wir den Rahmen wieder erweitern, im guten wie im schlechten Sinne. Auch im Rollstuhl können wir unvernünftig handeln.
Die Sage über den listigen Dädalos und seinen leichtsinnigeren Sohn veranschaulicht das schön, wie wir in den Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab nachlesen können. Er und sein Sohn Ikaros hatten auf der Insel Kreta in den Fängen von König Minos auszuharren. Dädalos sann auf Rettung, und nach langem Brüten rief er freudig aus: «Mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft bleibt mir doch offen. Über sie will ich entweichen.» So baute er für sich und seinen Sohn Flügel aus Vogelfedern. Diese Federn verknüpfte er oben mit Leinenfäden, unten mit Wachs.
Bevor die beiden losflogen, schärfte Dädalos seinem Sohn ein, ja nicht zu tief, aber auch nicht zu hoch zu fliegen. Unten ist das aufschäumende Wasser eine Gefahrenquelle, oben die Hitze der Sonne, lehrte er Ikaros. Schliesslich erhoben sie sich in die Luft. Kunstvoll schwangen sie ihr Gefieder. Schon bald glitt Ikaros genussvoll in höhere Luftschichten und kam der Sonne gefährlich nahe. Ihre heissen Strahlen erweichten das Wachs, die Flügel lösten sich auf. Ikaros stürzte ins Meer. In Gedenken an ihn erhielt die Insel, an deren Ufer sein Leichnam angeschwemmt worden war, den Namen Ikaria.
Ikaros lebt freilich nicht nur auf dieser Ferieninsel weiter, sondern auch in unseren Köpfen. Sein Schicksal steht stellvertretend für die Volksweisheit: «Wer zu übermütig wird, der wird bestraft.» Der ist schuldig. Von diesem Gesetz sind wir nicht befreit, obwohl wir unschuldig sitzen und in unseren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind.