Die Krankenpflegerin im Rollstuhl betrat die Bühne während der COVID-19 Pandemie
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- 03. Januar 2022
- Steve
Die Krankenpflegerin im Rollstuhl betrat die Bühne während der COVID-19 Pandemie
Andrea Dalzell (34) ist medizinisch-chirurgische Krankenpflegerin und setzt sich leidenschaftlich für Menschen mit Behinderungen ein. Sie ist die erste staatlich geprüfte Krankenschwester im Rollstuhl in New York City und eine von rund 20 geprüften Krankenpfleger/-innen im Rollstuhl, die in den USA in der Patientenpflege tätig ist. Während des pandemiebedingten Lockdowns arbeitete Andrea an vorderster Front und rettete das Leben von COVID-19-Patienten in einem der meistfrequentierten Spitäler in New York City.
Warum Andrea Krankenpflegerin werden wollte
Andreas wurde ohne Behinderung geboren, doch mit fünf Jahren erhielt sie die Diagnose Transverse Myelitis – eine neurologische Erkrankung, die durch eine Entzündung des Rückenmarks verursacht wird und die Schmerzen, Muskelschwäche und Lähmung zur Folge haben kann. Aufgrund der Erkrankung ist sie seit ihrem zwölften Lebensjahr querschnittgelähmt und seither auf den Rollstuhl angewiesen.
Andrea ist gerne unter Menschen. Sie trat in den Gospelchor der Highschool ein und ging auf Reisen. Wie viele andere genoss sie ihr Teenager- und Sozialleben.
Aufgrund ihrer Erkrankung musste sich Andrea 33 Operationen unterziehen, unter enormen Schmerzen. In ihren Worten: «Niemand sollte die Schmerzen erleiden müssen, die ich erlebt habe». Deshalb beschloss sie in der Highschool, Ärztin zu werden und Wege zur Behandlung von Schmerzen zu finden.
Schliesslich wurde sie am College of Staten Island der City University of New York zum Studium der Biologie- und Neurowissenschaften zugelassen. Doch sie entschied sich um und begann stattdessen ein Studium zur Krankenpflegerin. Sie sagte, dass dieser Beruf sie den Patienten näherbringen würde – so wie die Schwestern und Pfleger, die sich um sie kümmerten, wenn ihre Mutter nicht da war. Andrea meint dazu:
«Mir wurde klar, dass Ärzte die Krankheit behandeln und Pflegepersonen den Patienten.»
Der (Nicht-ganz-so-)Willkommenstag
Am Orientierungstag in der Krankenpflegeschule hatte Andrea einen unangenehmen Start. Kaum 45 Minuten nach Beginn der Einführung zog ein Professor sie heraus, weil sie für die Anforderungen des Berufs als physisch untauglich angesehen wurde. Durch solche Aussagen fühlte Andrea ihre Träume und ihre Entschlossenheit untergraben. Mithilfe des Büros für Studierende mit Behinderungen und des Büros für Vielfalt und Inklusion gelang es ihr, nicht vom Studium ausgeschlossen zu werden – nicht ohne zu versprechen, dass sie eventuell notwendige Anpassungen kommunizieren würde.
Andrea musste zugeben, dass der Beruf anspruchsvoller war als erwartet, sowohl physisch als auch psychisch. Um den körperlichen Anforderungen ihres Berufs zu genügen, begann sie mit dem Boxen, um ihre Armkraft und Fitness zu verbessern. Die Kombination von geistiger und körperlicher Aktivität und ihrem Mut halfen ihr durch das Studium zur Krankenpflegerin. Sie konnte allgemeine pflegerische Aufgaben wahrnehmen – einschliesslich der Herzdruckmassage, die als unmöglich für Rollstuhlfahrer gilt. 2018 bestand sie ihre Prüfung und wurde zur staatlich geprüften Krankenpflegerin.
Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt
Nach Abschluss ihres Studiums hatte Andrea grosse Probleme, eine Anstellung zu finden. Sie wurde zu 76 Bewerbungsgesprächen eingeladen, doch trotz ihrer Qualifikation und Leistung wurde sie abgewiesen. Im ersten Interview sprach sie nie über ihre Behinderung, weil sie dachte, es sei irrelevant.
Nach einiger Zeit entschied sie, ihre Behinderung anzusprechen und zu zeigen, wie sie Aufgaben als Pflegerin und besondere Situationen handhaben würde. Sie hoffte, damit bei den potenziellen Arbeitgebern und Mitarbeitern Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu erwecken, so dass sie sie einstellen würden. Dennoch wurde sie von allen abgelehnt.
Später während der COVID-19-Pandemie stieg der Bedarf an Pflegepersonal, doch Andrea wurde bei ihrer Jobsuche weiterhin diskriminiert. Sie ging zu zwei Bewerbungsgesprächen für Stellen in der Dialyse. Ein potenzieller Arbeitgeber gab an, dass er den Termin vergessen hatte, als er Andrea sah. Ein anderer war der Meinung, Krankenschwestern könnten nicht im Sitzen arbeiten.
Auf der COVID-19-Station im Rollstuhl arbeiten
Andreas Jobsuche nahm eine plötzliche Wendung, als der Bedarf an Pflegepersonal weiter zunahm. In einer Online-Befragung zur Vermittlung von Pflegepersonal fand sie die Nummer der Personalabteilung eines Spitals. Sie versuchte ihr Glück und rief an, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Sie rechnete nicht mit einer Antwort – doch 15 Minuten später erhielt sie einen Rückruf und eine Zusage für die Stelle.
Andrea begann auf der COVID-19-Station zu arbeiten, wo sie Patienten pflegte und überwachte, insbesondere solche an Beatmungsgeräten. Die Pandemie wurde für Andrea zur Chance, sich als Krankenschwester zu beweisen. Ihre Arbeit wurde von Forbes anerkannt und präsentiert. Sie wurde ausserdem als eine der «heldenhaften Krankenschwestern» während der COVID-19-Pandemie gerühmt.
Ein Mentor von Andrea merkte an:
«Eine Pandemie war nötig, damit diese ‹sitzende› Krankenpflegerin eine Anstellung bekommt.»
In dem Interview unten erzählt Andrea von einer ihrer «lustigen Erfahrungen» zu Beginn ihrer Arbeit auf der COVID-19-Station – ein Erlebnis, das für sie keine grosse Sache war, aber ihre Kollegen verblüfft ‹stehen› liess (ab Minute 2:30):
«Nach einer gemeinsamen Schicht räumte eine meiner Kolleginnen ein, dass es ihr leidtat, dass sie mich am Anfang unterschätzt hatte. Das war ein befriedigender Moment!»
Im Juni 2020 lief Andreas Vertrag als Pandemie-Krankenpflegerin regulär nach vier Monaten aus. Danach war sie für einige Zeit wieder ganz am Anfang: Sie musste sich wieder auf neue Pflegestellen bewerben und dabei wieder gegen Diskriminierung ankämpfen. Heute arbeitet sie an einer Privatschule als Pflegeberaterin sowie als stellvertretende Pflegedienstleitung für ein Primärversorgungszentrum, bei der sie klinische Erfahrung mit Verwaltungsarbeit verbinden kann. Andrea sagt über sich selbst:
«Allein meine Anwesenheit in einem klinischen Umfeld ermöglicht es Patienten, sich selbst in einem anderen Licht zu sehen.»
Hier ein aktuelles und umfassendes Interview mit Andrea über viele Aspekte ihres Lebens: ihre Tätigkeit als Krankenschwester, aber auch als Aktivistin, Influencerin in den sozialen Medien, Ausbilderin und Sportlerin:
Die Eine-Million-Dollar-Auszeichnung
Zusätzlich zu ihrer Qualifikation als Krankenpflegerin wurde Andrea mehrfach für ihren jahrelangen Einsatz auf dem Gebiet der Behinderung anerkannt. 2015 gewann sie die Wahl zur Miss Wheelchair New York und wurde im Raw Beauty Project vorgestellt, einer Fotoausstellung zu Ehren von Frauen mit Behinderungen in mehreren Städten der USA. 2021 wurde sie New Mobility Person of the Year. Andrea gab auch Interviews für diverse Zeitschriften und Fernsehsendungen, z. B. letztes Jahr für CBS New York.
Zudem ist Andrea eine von drei Personen, die 2020 den ersten Craig H. Neilsen Visionary Prize erhielten, der mit einer Million US-Dollar (!) dotiert ist. Er wird ohne Auflagen an Personen verliehen, die «einflussreiche Stimmen für die Welt der Querschnittlähmung sind und sich nicht vor Risiken scheuen» und die «grosses Potenzial darin zeigen, neue Ideen zu entwickeln oder zu vertreten, um das Leben von Menschen mit Querschnittlähmung zu bereichern».
Andreas Vision von echter Inklusion im Arbeitsmarkt
Andrea setzt das Geld der Auszeichnung sinnvoll ein: Vor kurzem gründete sie eine gemeinnützige Organisation mit dem Namen The Seated Position, um Menschen mit Behinderungen dabei zu unterstützen, eine Anstellung zu bekommen. Ihr Ziel ist eine veränderte Wahrnehmung in Bezug auf Menschen mit Behinderungen, indem sie zu Chancengleichheit, Unterstützung und Inklusion im Arbeitsmarkt aufruft. In einem kürzlichen Interview mit der American Nurses Association Illinois sagte sie:
«Ohne Behinderteninklusion kann es sehr gut sein, dass ihr eurem zukünftigen Ich die Zukunft verbaut.»
Sie hofft auf bessere Standards in der Pflegepraxis. Ausserdem wünscht sie sich mehr Lobbyarbeit für Menschen mit Behinderungen, denn diese können genauso kompetent wie nicht-behinderte Krankenpfleger sein und verdienen gleiche Beschäftigungschancen.
Seid Ihr schon einmal auf Schwierigkeiten oder sogar Diskriminierung bei der Jobsuche gestossen? Teilt Eure Erfahrungen mit uns!