Meine Schultersehnen sind dahin, meine Selbständigkeit auch. Wieder einmal beginne ich von vorne
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- 23. November 2021
- fritz
Meine Schultersehnen sind dahin, meine Selbständigkeit auch. Wieder einmal beginne ich von vorne
Am 15. April 2021 habe ich mich nach über zweimonatigem Aufenthalt in Kliniken bei euch zurückgemeldet. Heute tue ich das wieder. Meine zweite Leidensgeschichte in diesem Unglücksjahr begann am Abend des 29. September um 23.30 Uhr. Zum vorläufig letzten Mal kam ich selbständig und unbeschwert ins Bett. Kurz danach begann mich der rechte Oberarm zu schmerzen. Seither ist alles anders – (fast) wie seinerzeit nach meinem Töff-Unfall am 19. April 1977.
«Eigentlich wollte ich’s mir nochmals überlegen», wisperte ich. Wie versteinert starrte mich Piet an und entschwand mir. Ich mahnte zu spät. Das Gift begann zu wirken, meine Haut runzelte, das Skelett schrumpfte, ich erbleichte zum blutleeren Scheusal.
Der Glöckner von Notre Dame, dieser kleine und hässliche Krüppel, erschien mir; schliesslich Dracula, diese Schauerfigur mit ihrem ätzenden Blick, ihrem kreideweissen Gesicht und grauenvollen Gebiss. Er hob den Deckel seines Sargs und zog seine Lippen hoch, um mir seine ekelerregenden Eckzähne zu zeigen.
Da erwachte ich und wusste: Sich dem Tode freimütig entgegen zu bewegen, ist womöglich qualvoller als andere Wege. Ein typischer solcher Weg verlangt, weitere Verluste, Enttäuschungen und Abbau klaglos hinzunehmen. Dabei sind es doch längst genug! An jeder Wegscheide stellt sich die Sinnfrage. Irgendeinmal kommt der Punkt, an dem es sich als sinnlos erweist, diesem Pfad weiter zu folgen.
Meine Schultersehnen sind gerissen – auch am Tag ein Albtraum
Wie es scheint, hatte sich diese Einsicht bei mir so eingekerbt, dass sie mir diesen fürchterlichen Albtraum bescherte. Er übertraf alles, was mich die Alben schon träumen liessen, zum Beispiel das: Ich bin in Gesellschaft, unterhalte mich, vermag aber meine Augen nicht zu öffnen. Oder: Ich fühle mich verfolgt, muss fliehen und komme nicht vom Fleck. Dieses Mal gingen mir die nächtlichen Traumelfen direkt ans Leben, stachen mir förmlich ins Herz.
Am Nachmittag zuvor lag ich in der bildgebenden Röhre. Dort legte die schauderhaft hämmernde Magnetresonanz gestochen scharf offen, dass in meinem rechten Schultergelenk zwei Sehnen durch-, zwei andere angerissen waren.
Dank verschiedenen Muskeln und ihren Sehnen bildet sich das Schultergelenk. Wir können es in alle Richtungen bewegen. Reisst eine Sehne, wird es zu «lotterig».
Der Befund überraschte nicht. Schliesslich kam ich kaum mehr alleine ins Bett und wieder raus, nicht auf die Toilette, vom Schwung ins Auto gar nicht zu reden. Viele kleinere Bewegungen, wie ich sie beispielsweise zum Anziehen oder zum Steuern des Swiss-Trac brauche, fielen mir schwer. Selbst das Computer-Mäuschen war weniger leicht zu handhaben.
Es war augenfällig: Zumindest vorübergehend hatte ich meine Selbständigkeit verloren. Für mich eine Katastrophe, eigentlich selbst zu lichtvollen Tageszeiten ein Albtraum.
Im Albtraum zu dunkler Stunde war ich wesentlich hilfloser. Nur meinen Kopf konnte ich noch leicht anheben. Mehr nicht. Piet, mein vertrauter Freund, war ergriffen. Wohl wissend, dass es streng verboten ist und unter hoher Strafe steht, bot er mir an, mir zu helfen. Er war schon immer ein Draufgänger, ermöglichte mir viele Abenteuer, in diesem Traum sogar das allerletzte: So gut es mir möglich war, kam ich mit meinem Mund dem Giftbecher entgegen. Piet leerte ihn hinein.
Das Leben beginnt immer wieder neu
Nach der Bildgebung blieb ich sechseinhalb Wochen hospitalisiert. Ich stellte mich dem vermeintlichen Albtraum. Ganz neu war und ist er nicht, wurde mir bewusst. Vor 44 Jahren erging es mir nach meiner Rückenmarkverletzung – «C5/C7 inkomplett, Asia C» – sehr ähnlich. Zudem war alles ganz neu.
Heute ist es wieder neu.
Im Zentrum für Paraplegie einigten wir uns schnell darauf, eine Operation zu umgehen. Die Schmerzen liessen recht schnell nach, die funktionalen Ausfälle erwiesen sich als überschaubar, und das Gelenk blieb vergleichsweise stabil. Eine Operation würde mit vorübergehender völliger Ruhigstellung, Schonzeit und Wiederaufbau insgesamt rund sechs Monate verstreichen lassen, und dies bei einer Erfolgsquote von rund zwei Dritteln. Mit 67 Jahren auf dem Buckel spricht mich diese Vorgehensweise nicht an.
Nach der Schulteroperation müssen wir es sechs bis acht Wochen ruhigstellen und uns rundum pflegen lassen.
Mehr spricht für die ressourcenorientierte Denkweise, auch wenn sie vieles von mir abverlangt, ich zuweilen an ihr zweifle. Trotzdem ist sie der einzige begehbare Weg: Noch ist vieles erhalten, noch lässt sich vieles wieder aufbauen. Noch werde ich mit jedem Tag wieder geschickter, und noch ist es denkbar, dass ich wieder selbständiger werde.
Das Leben geht weiter. Es beginnt immer wieder neu.
Von der Klinik aus ging ich scheinbar unbekümmert in Restaurants. Niemand sieht, dass meine Schulter verletzt ist.