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Porträts & Geschichten

Träume sind wahr und doch unwahr

Alles, was wir je durchgemacht haben, hat unser Gehirn gespeichert

Alles, was wir je durchgemacht haben, hat unser Gehirn gespeichert

An meiner rechten Schulter spüre ich eine Hand, eine Männerhand. Sie berührt mich sanft, unaufdringlich. Ich kenne sie, und doch weiss ich nicht, wessen Hand es ist. Der Mann, dem sie gehört, steht hinter mir. Ich sehe ihn nicht, umdrehen kann ich mich nicht.

Da erklingt seine Stimme. Ich erkenne sie, und doch weiss ich nicht, wem ich sie zuordnen kann. Sie spricht mir zu: «Weiter so, es kommt gut!» Ich stütze mich höher, so gut ich es noch kann, und doch komme ich nicht rüber auf den Autositz, zurück auf den Rollstuhl noch viel weniger.

Er dreht sich ab, ich drohe zwischen Stuhl und Auto zu versacken, auf den Steinboden zu stürzen. Da erwache ich.

steg auf den see in der nacht

Unbeschwert wandeln wir im Traum bis zum Ende des Stegs. Wir erwachen in dem Moment, indem wir ins Wasser zu fallen drohen.

Ich bin wieder da, wo ich vor einem halben Leben war

Es ist drei Uhr morgens. Hellwach bin ich jetzt. Ich habe, wie es scheint, schlecht geträumt, nachts im Schlaf versucht, was ich mir zu wachen Tageszeiten nicht mehr zutraue: Trotz gerissener Sehnen in der rechten Schulter vom Rollstuhl ins Auto zu gelangen, zu transferieren, wie es im Reha-Jargon so schön heisst.

Noch habe ich nicht verinnerlicht, dass ich es nicht mehr kann, klammere mich daran, wie ich es bis vor einem Jahr immer getan habe. Eingekerbt hat es sich. Ich erinnere mich an jede Teilbewegung. Es käme nicht gut, würde ich es wieder so angehen. Jetzt fällt mir ein, wer mir zugesprochen hat. Der ehemalige Chefarzt des SPZ, Dr. med. Guido A. Zäch.

Vor 45 Jahren beobachtete Zäch, wie ich in der Erstrehabilitation geübt hatte, mich vom Rollstuhl aus auf den Autositz zu hieven. Ich stützte mich hoch, stiess mich seitlich ab, schon sass ich im Auto. «Weiter so, es kommt gut», rief er mir zu und ging zum nächsten Patienten.

ölbild von guido a. zäch

Guido A. Zäch, der langjährige Chefarzt des SPZ, betreute mich in der Erstreha 1977 in Basel. Wie auf diesem Ölbild erschien er mir im Traum.

Der Traum hatte hochgespült, was ich ein halbes Leben zuvor erfolgreich gelernt hatte. Er legte mir nahe, dran zu bleiben, es nochmals zu versuchen, wie ich es 1977 tat, nachdem ich verunfallt war und mir eine Tetraplegie zugezogen hatte. So legte ich aus, was ich geträumt hatte. Ich stand wieder dort, wo ich seinerzeit angefangen hatte, musste ich mir zu nächtlicher Stunde eingestehen.

Mitten in der Nacht holt mich die Realität ein

Die Sehnen rissen, weil ich sie über all die Zeit überstrapaziert hatte. Seither kann ich die Muskeln, die sie mit den Gelenkknochen verbinden, nicht mehr einsetzen. «Andere Muskeln werden die Funktion der verlorenen übernehmen», trösteten sie mich in der Klinik immer wieder.

Wenn dem so ist, überlegte ich nun, muss ich anders vorgehen, um wieder ins Auto zu kommen. Andere Muskeln ticken ja anders, also muss ich anders mit ihnen umgehen. So einfach und logisch ist das – und doch betrübte mich, was ich mir da zurechtgelegt hatte. Ich werde das nie umsetzen können, fürchtete ich.

In der Ferne läuteten die Kirchenglocken. Vier Uhr morgens zeigten sie an. Endlich entspannte ich mich und schlief wieder ein.

Im zweiten Traum kann ich wieder stehen

Tief habe ich wohl nicht gepennt, dafür noch wirrer geträumt. Martin Schwab, ein Neurowissenschaftler, erschien mir. Mit ihm hatte ich über Jahre zu tun. Noch heute forscht der inzwischen 73-Jährige, wie sich das verletzte Rückenmark regenerieren könnte.

In meiner Traumwelt prahlte ich ihm vor, dass ich meine geschundenen Schultern schone, dafür setze ich auf meine Beine. Auf ihnen stütze ich mich ab, wende mich und lasse mich so ins Auto, auch ins Bett plumpsen. Ich machte es ihm vor, stellte mich sogar an die Wand in meinem Schlafzimmer und setzte mich in meinen Rollstuhl.

«So einfach geht das, Martin», rief ich ihm hochmütig zu. Er lächelte wohlwollend und antwortete: «Ich mache trotzdem weiter.»

martin schwab

Mit dem Neurowissenschaftler Martin Schwab hatte ich immer wieder zu tun – neuerdings sogar im Traum.

Um sieben Uhr weckte mich meine Frau. Noch schlaftrunken rutschte ich mühselig in den Rollstuhl. Das kriege ich mit Ach und Krach wieder hin, mehr nicht. Im Kopf hallte nach, wie leicht im Traum alles ging.

Erst nach der dritten Tasse Kaffee dämmerte mir, was ich geträumt hatte. Ich stieg so aus dem Bett und stand, wie ich es bis zu meinem Unfall am 19. April 1977 immer tat. Mein Gehirn erinnert sich noch heute daran.

Die Traumwelt ist so gross wie unser Bewusstsein und Unterbewusstsein. Mehr dazu in meinem Buch «Ansonsten munter – Einsichten eines Rollstuhlfahrers» auf den Seiten 72 bis 74 und auf Seite 188 (erhältlich auch im Shop des ParaForum in Nottwil).

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