Frauen mit Querschnittlähmung kommen gegenüber Männern häufiger zu kurz: in der Forschung, bei der medizinischen Versorgung, bei Unterstützungsangeboten. Anlässlich des Weltfrauentages werfen wir einen Blick auf aktuelle Baustellen.
- 5 Minuten Lesezeit
- 07. März 2025
- George und Caroline
Am 8. März ist Internationaler Frauentag, auch bekannt als Weltfrauentag. An diesem Tag stehen weltweit die Rechte, die Gleichstellung und die Selbstbestimmung aller Frauen und Mädchen im Mittelpunkt.
Die Paraplegie Community nimmt diesen Tag zum Anlass, um die Situation von Frauen mit Querschnittlähmung zu reflektieren. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich oft von denen der Männer und bringen spezielle Herausforderungen mit sich. In diesem Blogartikel beleuchten wir einige dieser Unterschiede, indem wir Ergebnisse aus Forschungsstudien der Schweizer Paraplegiker-Forschung beleuchten.
Frauen sind in klinischen Studien unterrepräsentiert
In der klinischen Forschung zu kardiometabolischen, urologischen und sexuellen Aspekten der Querschnittlähmung sind Frauen oft unterrepräsentiert. Viele Studien konzentrieren sich auf Männer mit der Begründung, dass es deutlich weniger Frauen mit Rückenmarksverletzungen gibt. Teilweise werden Frauen sogar bewusst von Studien ausgeschlossen, damit alle Teilnehmer besser miteinander verglichen werden können.
Die Folgen dieser Forschungslücken sind erheblich: Ohne Daten über Frauen mit Querschnittlähmung können ihre spezifischen Bedürfnisse weder erforscht noch in der medizinischen Versorgung optimal abgedeckt werden.
Ein eher seltenes Bild, denn Forschung über Menschen mit Querschnittlähmung findet deutlich öfter mit Männern statt. Doch die Ergebnisse lassen sich nicht einfach auf Frauen übertragen.
Frauen nehmen seltener spezialisierte Versorgung in Anspruch
Frauen werden seltener als Männer in auf Rückenmarksverletzungen spezialisierten Zentren behandelt. Dies gilt sowohl für die Erstrehabilitation nach Eintritt einer traumatischen Querschnittlähmung als auch für Spitalaufenthalte zur Behandlung von später auftretenden Komplikationen.
Weitere Unterschiede zeigen sich bei der fachärztlichen Versorgung: 44 % der Frauen nehmen die jährliche Kontrolluntersuchung in Anspruch, bei den Männern sind es 53 %.
Dabei ist nachgewiesen, dass die spezialisierte Behandlung von einem interdisziplinären Team zu besseren Gesundheitsergebnissen führt. Warum also nutzen Frauen mit Rückenmarksverletzungen diese Angebote seltener?
Eine Erklärung könnte sein, dass sie lieber andere Fachärzt:innen aufsuchen, zum Beispiel Gynäkolog:innen. Diese können aber nicht allein die Kompetenzen eines interdisziplinären Teams abdecken.
Möglich ist auch, dass Frauen Behandlungen und Kontrolluntersuchungen in spezialisierten Zentren vermeiden, weil diese oft weiter entfernt sind und sie Alternativen in der näheren Umgebung vorziehen, die mit familiären Verpflichtungen besser vereinbar sind.
Frauen nutzen seltener eine auf Querschnittlähmung spezialisierte Versorgung. Für ihre Gesundheit kann das ein Nachteil sein.
Erhöhtes Risiko für depressive Symptome nach der Reha
Auch bei der psychischen Gesundheit gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. Gemäss dem Bundesamt für Statistik haben Frauen in der Allgemeinbevölkerung 1,5-mal häufiger mittelschwere bis schwere Depressionen als Männer. Bei Menschen mit Querschnittlähmung ist dieser Unterschied aber deutlich grösser. In den ersten zwei Jahren nach der Erstrehabilitation haben querschnittgelähmte Frauen im Vergleich zu Männern ein vier- bis siebenfach erhöhtes Risiko, depressive Symptome zu entwickeln.
Männer scheinen am Ende ihrer Erstrehabilitation psychisch in einem stabileren Zustand zu sein als Frauen. Dies zeigt, wie wichtig es ist, Frauen mit Rückenmarksverletzungen auch nach der Rehabilitation intensiv zu begleiten und gezielte Angebote zur Stärkung des psychischen Wohlbefindens zu schaffen.
Unerfüllte Bedürfnisse im Peer Support und im Sport
Frauen mit Querschnittlähmung geben an, dass ihr Bedarf an Unterstützungsangeboten in 30 % mehr Bereichen nicht gedeckt ist als bei Männern. Besonders gross ist der Unterschied beim Peer Support: Frauen geben 3,4-mal häufiger an, dass ihnen der Austausch mit anderen Betroffenen fehlt.
Auch im Sport berichten Frauen 2,6-mal häufiger von fehlenden Angeboten. Nach einer Querschnittlähmung sinkt der Anteil der Frauen, die mindestens einmal pro Woche Sport treiben, signifikant stärker als bei Männern.
Es gilt, die Angebote an die Bedürfnisse von Frauen anzupassen, um die soziale Teilhabe und das allgemeine Wohlbefinden zu fördern. Denn es ist nachgewiesen, dass ein hoher ungedeckter Bedarf an Unterstützungsangeboten mit einer geringeren Lebenszufriedenheit einhergeht.
Rollstuhlsport ist für viele Menschen nach einer Querschnittlähmung sehr wichtig, um das Vertrauen in den eigenen Körper zurückzugewinnen. Zudem fördert Sport das Sozialleben, erhöht die Lebenszufriedenheit und bringt viele gesundheitliche Vorteile.
Querschnittgelähmte Frauen setzen stärker auf Prävention
Trotz dieser Herausforderungen zeigen querschnittgelähmte Frauen ein höheres Gesundheitsbewusstsein. Aus der SwiSCI 2022-Bevölkerungsumfrage geht hervor, dass Frauen mehr Wert auf die Prävention von Folgeerkrankungen legen als Männer. Ausserdem gaben mehr Frauen als Männer an, den Empfehlungen des medizinischen Personals zu folgen und proaktiv nach Lösungen für ihre querschnittsbezogenen Gesundheitsprobleme zu suchen.
Sie nutzen digitale Technologien 1,79-mal häufiger als Männer, um ihre Gesundheit zu überprüfen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die neuen Technologien unterstützen das Selbstmanagement, indem sie das Monitoring, das Tracking, die Diagnose und den Zugang zur Gesundheitsversorgung erleichtern. Dieses proaktive Verhalten kann sich positiv auf die Gesundheit und Lebensqualität von Frauen mit Querschnittlähmung auswirken.
Digitale Technologien sind z. B. Smartphone, Computer und tragbare Tracking-Geräte wie Smartwatches. Frauen nutzen sie häufiger als Männer zur Gesundheitsförderung.
Zusammengefasst ist die Situation von Frauen mit Querschnittlähmung noch unbefriedigend: Sie werden seltener von auf Rückenmarksverletzungen spezialisiertem medizinischem Fachpersonal versorgt. Die derzeit bestehenden Unterstützungsangebote wie Sport und Peer-Support decken ihre Bedürfnisse weniger gut ab. Nach der Erstrehabilitation haben sie ein höheres Risiko für Depressionen. Zugleich berücksichtigt die Forschung die spezifischen Bedürfnisse von Frauen noch zu wenig. Es ist an der Zeit, dies zu ändern.
«Mit unserer Forschung wollen wir nicht nur Daten liefern, sondern konkrete Veränderungen bewirken – für mehr Chancengleichheit und bessere Versorgung weit über die Erstrehabilitationsphase hinaus.»
Dr. Janina Lüscher, Leiterin der SPF-Forschungsgruppe für die psychosoziale Gesundheit von Menschen mit Querschnittlähmung
Neues Projekt will die Situation von Frauen verbessern
Einen Ansatz zur Verbesserung der Situation bietet das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Projekt unter der Leitung von Dr. Marija Glisic und Dr. Janina Lüscher von der Schweizer Paraplegiker-Forschung (SPF). Das Projekt startet im April 2025. Ziel ist ein besseres Verständnis und ein besserer Umgang mit psychischem Stress bei Frauen und Männern mit Querschnittlähmung, die sich am Übergang von der Erstrehabilitation zurück in den Alltag befinden. Die Erkenntnisse fliessen in eine Online-Plattform ein, welche die psychische Gesundheit von Frauen und Männern mit Rückenmarksverletzungen stärken soll.
«Unser Ziel ist es, die psychische Gesundheit von Frauen mit Querschnittlähmung nachhaltig zu stärken, indem wir ihre spezifischen Bedürfnisse sichtbar machen und gezielte Unterstützung anbieten.»
Dr. Marija Glisic, Co-Leiterin der SPF-Forschungsgruppe für die Atmung und das Herz-Kreislauf-System von Menschen mit Querschnittlähmung
Welche Erfahrungen hast du als querschnittgelähmte Frau mit der medizinischen Versorgung und Unterstützung gemacht?