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Gesellschaft

Zwischen Stuhl und Bank

Als Pensionierte sind wir immer noch Paras und Tetras, aber schlechter versichert als vor der Pensionierung. Das kann teuer werden

«Älter als gedacht, werden sie, unsere Para- und Tetraplegiker.» Das müssen sich heute viele Ärzte, Pflegende und Therapeuten sagen, die uns vor 30, 40 oder 50 Jahren rehabilitiert haben.

Doch was uns alle freut, ist aus versicherungstechnischer Sicht nicht immer ideal. Als pensionierte Querschnittgelähmte unterstehen wir der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Die Eidgenössische Invalidenversicherung (IV) finanziert uns nur noch Hilfsmittel und Assistenzbudgets, die wir bereits vor der Pensionierung hatten. Sie bilden unseren «Besitzstand», wie es die Juristen ausdrücken. Wenn wir aber neue und komplexere Hilfsmittel benötigen, ist die IV nicht mehr zuständig und die AHV übernimmt nur noch wenige.

logo ahv iv

Mit der Pensionierung fallen auch Leistungsbezüger der Invalidenversicherung ins Netz der AHV. Das hat mehr Nachteile als Vorteile.

Teure Hilfsmittel belasten unser Konto und unsere Seele

Wenn wir als langjährig Querschnittgelähmte («QS’ler»), inzwischen pensioniert, plötzlich statt auf den Handrollstuhl auf einen Elektrorollstuhl angewiesen sind, trifft uns das dreifach: Erstens müssen wir uns schmerzlich eingestehen, dass wir ohne Elektrorollstuhl nicht mehr zurechtkommen. Zweitens müssen wir dieses Hilfsmittel, das wir bisher erfolgreich vermieden haben, nun selbst finanzieren.

Drittens bezahlen wir für den Elektrorollstuhl einen tendenziell überhöhten Preis. Denn die Kosten werden in der Regel von Versicherungen übernommen. Das treibt die Preise in die Höhe, weil sie niemand ernsthaft hinterfragt. Dieses ökonomische Gesetz wirkt im gesamten Gesundheitssystem. Es bestraft alle, die schlecht oder gar nicht versichert sind und treibt sie im schlimmsten Fall in die Armut.

Als pensionierte «QS’ler» tragen wir selbst das Risiko, dass sich die Folgen unserer vor langer Zeit erlittenen Rückenmarksverletzung verschlimmern. Das Versicherungssystem geht davon aus, dass wir einfach altern. Wie wir damit umgehen und es finanzieren, bleibt uns überlassen. Verjüngende Perücken und trendige Sonnenbrillen muss man schliesslich auch selbst bezahlen!

fritz vischer im rollstuhl im gebirge

Noch nicht pensioniert, war ich im Handrollstuhl selbst im Hochgebirge unterwegs.

Die Politik hat das Problem erkannt

Inzwischen haben auch linke und rechte Politiker erkannt, dass diese Argumentation zu kurz greift. Sinnvoller ist die Frage, warum Menschen bestimmte zusätzliche oder komplexere Hilfen in Anspruch nehmen. Dies umso mehr, wenn sie bereits vor der Pensionierung unter der zugrundeliegenden medizinischen Symptomatik gelitten haben.

In diese Richtung zielen zwei Motionen der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates. Die eine fordert eine «smarte» Auswahl an Hilfsmitteln, die andere Assistenzbeiträge, und beide zusammen gelten «für Menschen mit Behinderung», und zwar auch «nach Erreichen des AHV-Alters». Die Kommission weist darauf hin, dass ihre Motionen dazu beitragen, dass diese Menschen länger selbständig zu Hause leben können. Dies ist wesentlich kostengünstiger als die Pflege in einem Heim.

älterer mann im elektrorollstuhl

Pensioniert und plötzlich auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. Die Invalidenversicherung bezahlt ihn nicht.

Rechtzeitig vorsorgen lohnt sich

Aufgepasst: Ob die Motionen überhaupt umgesetzt werden, ist ungewiss, und selbst, wenn es gut läuft, wird es noch dauern. In der Zwischenzeit müssen wir uns wie früher an den reichen Onkel in Amerika wenden.

Wer keinen hat, kann in der Schweiz gemeinnützige Stiftungen anschreiben. Dabei ist zu bedenken, dass Stiftungen zu nichts verpflichtet sind und nach ihren internen Regeln verfügen.

Ferner gilt, auch wenn es unangenehm ist: Um nicht in eine Finanzierungslücke zu fallen, tun wir gut daran, uns vor der Pensionierung gegenüber Gutachtern hilfloser zu geben, als wir uns fühlen und sind. Das System zwingt uns dazu.

logo schweizer paraplegiker stiftung

Auch Pensionierten, die sich eine Querschnittlähmung zuziehen, hilft die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS).

Statuten der Schweizer Paraplegiker-Stiftung

Auszug aus Artikel 2 – Zweck der Stiftung:

«Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung bezweckt die ganzheitliche Rehabilitation von Para- und Tetraplegikern. Sie ergreift und unterstützt alle Massnahmen, die nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik zur Erreichung dieses Zieles angezeigt sind.

Die Stiftung unterstützt die Para- und Tetraplegiker in Härtefällen mit Beiträgen an die Kosten von Hilfsgeräten, Apparaturen und Einrichtungen sowie an ungedeckte Pflegetaxen und hilft in Not geratenen Para- und Tetraplegikern und ihren Angehörigen.»

Wir Para- und Tetraplegiker haben es vergleichsweise gut. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung gehört zu den grössten im Land. Sie betreibt verschiedene sogenannte «Leistungsfelder», eines heisst «Solidarität». Unter diesem Titel gewährt uns die Stiftung auch finanzielle Direkthilfe. 2023 gingen bei ihr 1740 Gesuche ein. Auf rund 90 Prozent konnte sie gemäss Statut und Reglementen eintreten, die übrigen musste sie leider abweisen.

Wie sie Gesuche im Alltag bearbeitet, fragen wir am besten den Direktor der Stiftung, den Juristen Dr. Joseph Hofstetter:

joseph hofstetter

Dr. jur. Joseph Hofstetter leitet die Schweizer Paraplegiker-Stiftung seit 2012.

Gespräch mit Dr. iur. Joseph Hofstetter (63), Direktor der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) seit 2012

Soviel ich weiss, unterstützt ihr im Alltag nicht nur Para- und Tetraplegiker, sondern auch andere Patientengruppen. Welche?

Wir unterstützen Menschen mit Querschnittlähmung sowie Menschen mit querschnittähnlichen Syndromen. In der Praxis sind dies nebst Para- und Tetraplegikern auch Menschen mit «offenem Rückenmark» (Spina bifida) und ALS (Amyotrophe Lateralsklerose). Aus historischen Gründen zählen auch Menschen mit Kinderlähmung (Poliomyelitis) dazu. In Absprache mit den Krankenkassen haben wir immer wieder auch Patienten mit schweren Formen von Multipler Sklerose und mit Cerebralparese in der Klinik. Sie unterstützen wir teilweise, sofern sich ihre jeweiligen Hilfswerke ebenfalls beteiligen.

Wer ein «Härtefall» oder «in Not geraten» ist, kann auf die Hilfe der SPS zählen. Wie geht ihr vor?

Wir arbeiten schnell und möglichst unbürokratisch. Trotzdem sind bei jedem Gesuch vier Fragen zu klären: Erstens die Anspruchsberechtigung, also die medizinische Beurteilung, zweitens bei Hilfsmitteln und Umbauprojekten die Beurteilung durch Sachverständige. Drittens prüfen wir, ob andere Kostenträger in der Pflicht stehen. Dann gewähren wir allenfalls eine Überbrückungsfinanzierung (subsidiäre Kostengutsprache), bis die primären Kostenträger ihre Leistungen ausrichten. Schliesslich berücksichtigen wir viertens die finanziellen Verhältnisse der Gesuchsteller.

Wo liegen denn die Schwellen?

Wer einen sechsstelligen Betrag verfügbar hat oder das Medianeinkommen von 80'000 Franken erzielt, muss sich an den Kosten anteilmässig beteiligen. Wohneigentümer drängen wir allerdings nicht zum Verkauf. Wir beschränken uns auf das liquide Vermögen.

Bei gewissen Anliegen gewährt ihr Pauschalbeiträge.

Ja, Sportgeräte finanzieren wir zu 75 bzw. 85 Prozent bis maximal 5'000 bzw. 10'000 Franken (Kader) mit. Abhängig von den finanziellen Verhältnissen sind die Pauschalen für Automobile: In der Regel 20'000 Franken für Paraplegiker sowie 30'000 Franken für Tetraplegiker, wenn sie mit dem Rollstuhl über einen Kassettenlift ins Auto gelangen müssen. Den Umbau finanziert gewöhnlich die IV, ausser der Patient ist im AHV-Alter. Dann trägt meistens die Stiftung diese Kosten ganz oder teilweise.

Kostspielige Aufwendungen, die ausschliesslich der erworbenen Behinderung geschuldet sind, empfinden selbst langjährige Betroffene als Strafe. Wiegt die SPS solche Frustrationsgefühle finanziell auf?

Ja, punktuell tun wir das. So finanzieren wir Menschen, die sich erst im Pensionsalter eine Querschnittlähmung zuziehen, dringliche Hilfsmittel im Sinne einer Erstversorgung ohne Selbstbeteiligung. Die IV ist ja für sie nicht mehr zuständig. Sodann können die Angehörigen von Patienten hier in Nottwil in der Akutphase bis zu dreissig Mal gratis im Hotel übernachten.

Wie geht es weiter?

Die Diskussion, wie wir am wirksamsten helfen, ist in ständigem Fluss. Die Bedürfnisse können sich ändern.

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