Bei Manuela Schär kam stets der Sport zuerst. Dann machte sie in ihrem Leben Platz für einen Hund und war erfolgreicher denn je. Eine Liebesgeschichte
- 4 Minuten Lesezeit
- 07. März 2022
- Susanne Zuercher
Bei Manuela Schär kam stets der Sport zuerst. Dann machte sie in ihrem Leben Platz für einen Hund und war erfolgreicher denn je. Eine Liebesgeschichte
Wer ein bisschen sportinteressiert ist, kennt Manuela Schär. 2019 hat sie alles gewonnen, was es in der Marathon Major Serie des Rollstuhlsports zu gewinnen gibt: den Tokio Marathon, Boston, London, Berlin, Chicago und schliesslich den New York Marathon ebenso wie den Weltrekord über 800 Meter.
«Mein Trainer Claudio Perret sagt immer, dass ich dank Lui so viele gute Resultate abgeliefert habe», sagt Manuela und lacht. Lui ist ein inzwischen vierjähriger Boston Terrier, den die 37-Jährige 2018 zu sich geholt hat.
Als Kind mit einem Golden Retriever aufgewachsen, war für sie als Profisportlerin ein eigener Hund lange kein Thema. «Irgendwann spürte ich, dass bei all dem Training und dem Fokussieren auf Leistung und auf Erfolge meine weiche Seite verkümmert. Da wurde mir klar: Ich brauche etwas fürs Herz!»
Auf Hundesuche bei Tierheimen abgeblitzt
Wohlüberlegt recherchierte Manuela und sicherte sich die Unterstützung ihrer Eltern für die Hundebetreuung, während sie rund um den Globus Rennen fuhr. Sie schaute sich auf Vermittlungsplattformen von Tierheimen nach einem geeigneten Hund um. Sportlich sollte er sein, nicht zu gross, gutmütig. Doch die Reaktionen aus den Tierheimen auf ihre Anfragen waren ernüchternd: Es sei unrealistisch, dass sie als Rollstuhlfahrerin mit einem Hund aus dem Tierschutz zurechtkomme. Diese Tiere seien zu unberechenbar.
Daraufhin begann sie sich bei Züchtern von Boston Terriern umzusehen, liess sich auf einer Warteliste eintragen. Als schliesslich an einem Ort Nachwuchs angekündigt wurde, fuhr sie ins Berner Oberland, besuchte den Wurf in jeder freien Minute und beeindruckte die Züchterin mit ihrem Wissen über Rasse und Haltung.
«Eigentlich hatte ich ein Weibchen gesucht. Dann legte sich dieser winzig kleine Welpe mit den weissen Flecken auf den Ohren zwischen das grosse Rad und das Vorderrad bei der Fussstütze meines Rollstuhls, schlief dort ein, und es war um mich geschehen – Liebe auf den ersten Blick!»
Lui hilft beim Regenerieren
Im Alter von zehn Wochen zog Lui bei Manuela in Kriens ein. In den ersten Wochen nach seiner Ankunft habe sie mehrere Kilos abgenommen. «Ich kam kaum zum Essen und war mega oft draussen, weil der Kleine dauernd mal musste.» Der lustige Kerl habe sie total auf Trab gehalten. Auf jeden Fall sei Lui der perfekte Anfängerhund für sie, findet Manuela. «Ich muss ihn nie an die Leine nehmen, er bleibt immer in meiner Nähe.»
Die Sportlerin nimmt Lui auch stets zu den ein bis zwei Trainingseinheiten pro Tag in Nottwil auf der Rennbahn oder im Kraftraum mit. Dort chillt der Vierbeiner in seinem Körbchen und Frauchen fokussiert sich ganz auf ihren Sport. Zwischen den Trainings geniesst sie es dafür sehr, die ehemals ‹unproduktive Zeit› bewusst mit ihrem Hund für die Regeneration zu nutzen. «Wenn ich mit Lui spazieren gehe, telefoniere ich nicht oder höre auch keine Podcasts, sondern bin einfach ganz im Jetzt.»
Ein Hund macht keine Unterschiede
Das mit den ‹Hinterlassenschaften› beim Spazieren beziehungsweise Gassigehen, ist das für sie als Rollstuhlfahrerin nicht manchmal schwierig? Manuela überlegt. Eigentlich nicht, findet sie. Ein paar wenige Male hätte sie sich im Rollstuhl wegen des unebenen Geländes in Gefahr gebracht, wenn sie den Hundekot hätte eintüten wollen; ansonsten sei dies nie ein Problem gewesen.
Was Manuela in ihrem Alltag hingegen immer wieder als Herausforderung empfindet, umschreibt sie mit dem Begriff ‹subtiler Ableismus› (Ableismus = Abwertung oder Diskriminierung von Menschen mit Behinderung). Sie erzählt von einem Waldspaziergang mit Lui, bei dem ihr zwei Frauen mit ihren Hunden entgegenkamen. Gemäss ungeschriebenem Gesetz leint man das eigene Tier bei Begegnungen mit anderen Hunden und Hundehalter:innen an. Entsprechend rief Manuela Lui zu sich und nahm ihn an die Leine. Lui und sie hätten die Frauen bereits hinter sich gelassen, als eine der beiden ihr nachgerufen und sie für das Anleinen von Lui gelobt habe. Dass der Hund einer Rollstuhlfahrerin aufs Wort folgt, habe sie wohl überrascht, glaubt Manuela. Solche oft als Komplimente verpackten Abwertungen gegenüber Menschen mit Einschränkungen beschäftigen sie.
«Als Lui in mein Leben kam, habe ich erfahren, was vollkommenes Vertrauen bedeutet. Denn Hunde haben keine Vorurteile, für die bist du ihr Frauchen oder Herrchen, egal, ob im Rollstuhl oder als Fussgängerin!»
Lui liebt Manuela so, wie sie ist. Wo erlebt Ihr vorurteilslose Zuneigung?