Die Forschung zeigt: Viele Querschnittgelähmte meistern ihren Alltag allein – sie «managen» sich gut.
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- 30. April 2025
- fritz
Dank der SwiSCI-Befragung von 2022 wissen wir:
- Nur jeder Fünfte von uns, also knapp 20 Prozent, nimmt im Alltag die Hilfe von aussenstehenden Dritten in Anspruch, zum Beispiel von der Spitex.
- Wie bereits im Blog-Artikel «Aktuelle Ergebnisse aus der SwiSCI-Umfrage» berichtet, gaben knapp die Hälfte der Befragten an, weniger als eine Stunde pro Tag für das sogenannte «Selbstmanagement» zu benötigen.
- 69 Prozent von uns leben «mit anderen Menschen» zusammen, also in einer Form von Partnerschaft. 29 Prozent hingegen leben allein. Ich dachte, es wären weniger. Offensichtlich «managen» sie sich selbst trotz Querschnittlähmung erfolgreich.
Was neudeutsch «Selbstmanagement» heisst, war früher die Selbsthilfe. Sie betrifft alle Menschen ein Leben lang. Deshalb bringen Eltern ihrem Kind zuerst bei, trocken zu werden, sich selbst zu waschen, anzuziehen und zu pflegen, damit es nicht krank wird – und zwar morgens, tagsüber und abends.
Wer, wie wir «QS’ler», körperlich eingeschränkt ist, muss das alles wie in jungen Jahren neu lernen. Wer dafür weniger als eine Stunde braucht, ist sportlich unterwegs. Ich gratuliere!
Um sich selbst zu «managen», lernt das Kleinkind unter anderem, reinlich zu werden.
Eitelkeit kostet Zeit – das Beispiel Jassir Arafat
Ich ziehe einen Vergleich mit einem körperlich nicht behinderten Menschen, zum Beispiel Jassir Arafat. Dem 2004 verstorbenen charismatischen Palästinenserführer wurde nachgesagt, er habe den gepflegtesten Stoppelbart der Welt.
Nicht nur das: Er trug stets ein sorgfältig geschlungenes Kopftuch in der Form des palästinensischen Staatsgebiets vor 1948. Um den Hals trug er ein Tuch aus dem gleichen Stoff. Gekleidet war der Kämpfer, der 1994 den Friedensnobelpreis erhielt, meist in eine schön drapierte grüne Uniform.
Bevor Arafat so adrett auftreten konnte, überprüfte er, ob sein ständiger Begleiter, die geladene Pistole, funktionierte. Am Abend legte er den ganzen Schmuck wieder ab und verwahrte die kleine Kanone an einem sicheren Ort.
Arafat musste immer auf der Hut sein, dass ihm niemand etwas antat. Sogar bei seinem ersten Auftritt vor der UNO-Vollversammlung trug er ein Pistolenhalfter, so selbstverständlich wie wir uns im Rollstuhl fortbewegen.
Jassir Arafat, der berühmt-berüchtigte Palästinenserführer: immer perfekt eingekleidet, der Stoppelbart sauber zugeschnitten, die Pistole geputzt und schussbereit. Eine zeitraubende Form des «Selbstmanagements». (Bild: Copyright World Economic Forum (http://www.weforum.org/) swiss-image.ch/Photo by Remy Steinegger, Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0)
Auch der Schutz vor Bedrohungen ist zeitraubend
Um unsere Gesichtsbehaarung kümmern wir uns vielleicht weniger. Dafür pflegen und kontrollieren wir unseren Körper an anderen Stellen akribisch. Wir entlasten und kleiden uns so, dass sich ja keine hautschädigenden Falten bilden. Zudem wehren wir uns ständig gegen Bakterien, die sich über den Katheter gerne in der Blase einnisten und dort bedrohlich vermehren.
Vernachlässigen wir das, werden wir krank und verkürzen unser Leben. Arafat überlebte 75 Jahre. Die Gerüchte, er sei vergiftet worden, sind nie verstummt.
Unser stets steriler Katheterismus ist Teil unseres «Selbstmanagements». (Bild: Sabrina Kohler / Schweizer Paraplegiker-Stiftung)
Was uns ärgert, verdrängen wir gerne
Wie viel Zeit wir für Eitelkeiten, Körperpflege und den Schutz vor Bedrohungen aller Art aufwenden, lässt sich kaum ermessen. Wir verdrängen es gerne, und unser Gehirn hilft uns dabei. Ärger und Qualen blendet es so schnell wie möglich aus. Schönes und Lustvolles dagegen lässt es aufleuchten. War die Morgentoilette mal wieder schwierig, ist sie gegen Mittag bereits halb vergessen. Spricht uns der Sozialforscher darauf an, antworten wir: «Das war schnell vorbei, ist ausgestanden.»
Von Arafat wissen wir nicht, wie viel Zeit er brauchte, um immer theatralisch auftreten zu können. Wahrscheinlich ging es ihm wie den meisten von uns: Helfende Hände umgaben ihn. Oft nehmen wir «QS’ler» das gar nicht wahr, weil wir uns daran gewöhnt haben.
So erscheint uns alles leichter und weniger zeitaufwendig, als es ist. Deshalb schätzen wir uns als recht «selbstwirksam» ein, nämlich im Durchschnitt mit 3,63 auf einer Skala von eins bis fünf. Umgangssprachlich heisst das, wir glauben an uns. Deshalb sind wir auch recht optimistisch: 6,59 auf einer Skala von eins bis zehn.