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Wissenschaft

Erforscht werden wir!

Befragungen über uns helfen, Bedürfnisse zu erkennen – allerdings nur, wenn wir uns beteiligen

Alle fünf Jahre befragen uns die Sozialforscher von SwiSCI

2012 wandten sich die Sozialforscher der Schweizer Paraplegiker-Forschung (SPF) im Rahmen der SwiSCI-Studie erstmals an 3'172 von uns Para- und Tetraplegikern. Auf einen ersten kurzen Fragebogen antworteten immerhin 1'949, also 61 Prozent. Ein zweiter, längerer folgte. 1'549 von uns, also 49 Prozent, füllten ihn brav aus.

Fünf Jahre später, im Jahr 2017, kamen die Sozialforscher wieder und schrieben 4'026 von uns an. 1'530, also 38 Prozent, wählten rund einer Stunde lang aus den vorformulierten Antworten die für sie am besten passende aus.

2022 luden die Sozialforscher ein drittes Mal ein, und zwar 4'126 von uns. Nur noch 1'320 beantworteten die Fragen, also knapp jeder Dritte.

ankreuzen ja oder nein

Eigentlich möchte ich antworten: Weder Ja noch Nein …

Bedürfnisse erkennen ist das (politische) Ziel

Mit ihren «Bevölkerungsumfragen» versucht die SPF, von uns «ein umfassendes Bild der aktuellen Lebenssituation, der Probleme und der nicht abgedeckten Bedürfnisse» zu zeichnen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat sie seit 2012 weitere 954 Mitglieder unserer Bevölkerung in ihre Datenbank aufgenommen. Doch immer weniger von uns machen mit.

Dabei haben und entwickeln wir als soziale Randgruppe, beschönigend als «Bevölkerung» bezeichnet, gemeinsame politische Interessen. Die Beobachtungsstudien der SPF helfen, diese zu erkennen und statistisch zu untermauern. Auch wenn gewisse Grundbedürfnisse bestehen bleiben, sind es nicht immer dieselben: Die Zeiten ändern sich, neue Mitglieder kommen durch Krankheit oder Unfall hinzu, andere sterben. Genau das erfassen die Statistiker, um ein Bild von uns zu zeichnen.

Allerdings: Wenn sich nur 32 Prozent beteiligen, wird dieses Bild unscharf, vergleichbar mit impressionistischen Gemälden von Monet oder van Gogh, obwohl die Statistiker präzise arbeiten.

claude monet sonnenaufgang

Je weniger Menschen an Befragungen teilnehmen, desto unklarer wird das Bild. In der Kunst finden wir das schön, in der Sozialforschung weniger. (Claude Monet, Sonnenaufgang)

Trotz genauer Zahlen müssen wir raten

Manche von uns beantworten Fragen zu ihrer Lebenssituation gerne, weil es ihnen gut geht. Andere nutzen die Gelegenheit, um etwas Belastendes anzugeben, wie zum Beispiel chronische Schmerzen. Dann gibt es die Treuen und Loyalen. Sie nehmen pflichtbewusst teil, weil sie die SPF unterstützen möchten. Schliesslich gibt es diejenigen, die aus Neugier, vielleicht auch zum Zeitvertreib, mitmachen.

Für die letzte Umfrage von 2022 wissen wir nun, dass die Teilnehmenden im Durchschnitt 58 Jahre alt waren und seit 20 Jahren im Rollstuhl sassen.

Sind also die Zeiten vorbei, in denen Paras und Tetras jung waren? Vielleicht schon. Die Menschen werden immer älter, und im Alter steigt das Risiko für eine Querschnittlähmung, sei es durch einen Sturz von der Treppe oder durch eine Krankheit.

Es könnte aber auch sein, dass vor allem die Älteren geantwortet haben, während die Jüngeren die Einladung in den Wind geschlagen haben. Sie haben keine Zeit, sie interessieren sich nicht für Befragungen, und sie haben, was sie brauchen: Sie sind medizinisch gut versorgt, haben zweckmässige und moderne Hilfsmittel, eine funktionale Wohnung und einen zumindest halbwegs lukrativen Job. Sie geben nicht gerne auf einer Skala von eins bis zehn an, ob sie sich manchmal niedergeschlagen oder ausgegrenzt fühlen, zumal sie glücklich verheiratet sind. Es geht ihnen «o.k.».

fragebogen zum ankreuzen

Mehr als ankreuzen müssen wir nicht. Nur so lassen sich Fragebögen systematisch auswerten.

Unsere Abgründe sind nicht erforscht

Natürlich gibt es auch diejenigen, die nicht antworten können. Ihnen geht es zu schlecht, ihr Tag ist gefüllt mit Ärgernissen rund um ihre Behinderung. Sie haben keine Energie und keine Zeit, sich mitzuteilen. Sie haben sich längst damit abgefunden, dass sie vom Leben nicht viel erwarten dürfen. Sie leiden still, oft einsam, immer wieder sind sie im Spital.

Auf wie viele von uns dies zutrifft, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, wie viele wir überhaupt sind. Die Datenbank der SPF erfasst nicht alle. Wir dürfen annehmen, dass wir mindestens 5'000 sind, vielleicht sogar 10'000 oder mehr.

Jeder von uns weiss aber auch, dass wir phasenweise unzufrieden sind, fluchen oder schluchzen und schnell am Rande stehen: Passiert uns etwas Schlimmes, treten Komplikationen auf, sind wir plötzlich hilflos wie ein Kleinkind und bleiben es im schlimmsten Fall auch. Die Sterbehilfeorganisation Exit nennt Tetraplegie regelmässig als Grund, warum Menschen aus dem Leben scheiden.

haus auf felsspalte vor abgrund

Unsere Abgründe können die Sozialforscher nicht ausleuchten.

Für Sozialforscher ist es kaum möglich, in diese Tiefen vorzudringen. Wenn sie danach fragen, antworten wir entweder gar nicht oder beschönigend. Was uns demütigt, blenden wir bewusst aus. Wir leben lieber, als uns zu entblössen. «Alles in allem», sagen wir deshalb den Sozialforschern, «sind wir zufrieden».

Nicht ganz befriedigend! Und doch ist es gut, dass sie uns im Rahmen von SwiSCI erforschen.

Was haben die Forscher diesmal über uns herausgefunden? Die Ergebnisse der neuesten SwiSCI-Befragung erscheinen im November 2024 in einer Spezialausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Ich werde im Blog der Community für euch berichten.

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