To Homepage
Porträts & Geschichten

Re-Rehabilitation für den älteren Tetraplegiker

In der Reha sind die Tage getaktet. Dank der Re-Rehabilitation im SPZ weiss ich jetzt, wo ich stehe. Verjüngt hat sie mich leider nicht.

Wer wach ist, wünscht dem «Nachtvogel» noch einen schönen Tag. Ein, zwei Stunden später tritt der Frühdienst ein. Es wird hell im Zimmer und es kommt Tempo auf: Hautkontrolle, Vitalwerte, Aufstehen, Frühstück, Körperpflege, Ankleiden, erste Therapie, Stationsarzt, zweite Therapie, Mittagessen, kurze Ruhepause, unterbrochen vom Spätdienst, der sich ankündigt.

Der Nachmittag beginnt mit dem Krafttraining, neudeutsch Medical Training Therapy (MTT) genannt. Danach klären wir bei der Orthotec, ob es zweckdienlichere Hilfsmittel gibt, zum Beispiel besseres Rollmaterial. Anschliessend geht es weiter in die Urologie: Auf den Behandlungstisch, Hose runter. Damit endet der therapeutisch-medizinische Teil des Re-Rehabilitationstags.

Gegen 18 Uhr rollen alle ins «Casino» zum Nachtessen. Es folgen beschaulichere Stunden, die im Bett enden. Der «Nachtvogel» steht wieder im Zimmer und löscht das Licht. Der Tag ist vorbei, das ständige Kommen und Gehen hat ein Ende.

mtt geräte

Die Medical Training Therapy (MTT) mit einer Unzahl von teuren Geräten ist etwas stumpfsinnig und selbstquälerisch.

Wie in der Rekrutenschule

Beim Mittagessen erzählen alle von ihrem Tagesprogramm: «An jedem Reha-Tag gehst du von einer Station zur nächsten», sagt Markus. «Wie seinerzeit in der Rekrutenschule», entgegnet Ernst schmunzelnd. «Aber die Leute sind netter als die Offiziere, auch klüger», versetze ich. «Sehr kompetent sind sie und empathisch», findet Andreas, der drei Monate zuvor mit dem Fahrrad verunfallt ist.

Ernst, der längst pensioniert ist und einen «kaputten Rücken» hat, meldet sich erneut: «Ich wusste schon, ein Ferienlager ist es nicht, aber sie sind gut hier.» «Mich erinnert’s an die Lager mit den Pfadfindern. Alle durchlaufen ihr Programm und schlussendlich verbrüdern sich alle», bemerke ich.

Die anderen nicken stumm. Ihre Teller sind leer gegessen, meiner auch. Jeder rollt weiter auf seinem Reha-Weg.

fritz vischer mit swiss trac

Altes, aber bewährtes «Rollmaterial»: der Swiss-Trac. Während der Reha im SPZ haben wir den Vorteil, dass uns die Orthotec auch gleich mit neuen Hilfsmitteln versorgen kann.

Manche Pflegende sind etwas mühsam

Der folgende Tag verläuft anders. Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) rollen alle auf ihrem eigenen vorgegebenen Weg und sammeln ihre eigenen Erfahrungen.

Zum Beispiel diese: «Ich habe am Morgen vergessen, Ihre Haut zu kontrollieren. Nach dem Mittagessen müssen Sie nochmals aufs Bett», sagt die Pflegefachfrau HF sehr bestimmt zu mir. Ich bin verdutzt. Verärgert entgegne ich, dass ich um 14 Uhr ohnehin Physiotherapie habe. Wir einigen uns darauf, das zu verbinden.

«Eine starke Rötung am Sitzbein haben Sie», diagnostiziert sie. «Am Sitzbein?», frage ich verwundert und füge hinzu: «Am Steissbein habe ich seit Jahren eine schwache Rötung. Am Sitzbein wäre das neu und bedenklich.» Sie wiederholt: «Am Sitzbein.»

Abends lasse ich mein Gesäss fotografieren, und es bestätigt sich, was ich vermutet habe: Sie hat Steissbein und Sitzbein verwechselt. «Kein Grund zur Panik, aber aufpassen», meint der «Nachtvogel».

Beim Einschlafen fällt mir wieder ein, dass Pflegende verschiedene Qualitäten haben. Die Fürsorglichen suchen gerne Probleme, denen sie sich hingeben können. Gerötete Haut muss kontrolliert, gesalbt und mit Mepilex-Pflastern geschützt werden. Es gibt sicher Patienten, die es schätzen, so aufdringlich betreut zu werden. Ich gehöre nicht zu ihnen.

Ich habe eine Wunsch- und Frageliste

Mepilex steht nicht auf meiner Wunschliste. Dafür vieles andere, das mich seit einigen Jahren bekümmert: «Im Rollstuhl sitze ich wie eine Banane, und es wird laufend schlechter. Können wir das nicht zumindest aufhalten?», frage ich die Ärzte.

Die Bildgebung ergibt, dass sich die Hüftgelenke kaum mehr mobilisieren lassen. Genauer gesagt: kaum mehr mit meinen 70 Lebensjahren, davon 47 Jahre im Rollstuhl.

«Der spastische Tonus hat sich ebenfalls erhöht», klage ich. Auch dagegen könne man nichts tun, heisst es. Die Physiotherapeutin kann ihn jedoch senken und plötzlich sitze ich aufrechter im Rollstuhl. Ich sitze nicht mehr auf dem geröteten Steissbein, sondern auf dem Sitzbein.

Die Physiotherapeutin regt an, dass mir die FES, also funktionale Elektrostimulation, nachhaltiger helfen könnte. Die Methode ist zeitintensiv, darum bedenke ich das noch.

krumme sitzhaltung im rollstuhl

Wie eine Banane hänge ich im Sitz. Schuld sind meine Hüftgelenke. Sie lassen sich nur schwer beugen. Damit muss ich mit meinen 70 Jahren leben.

Die Reha regt uns an

«Und die Blutdruckschwankungen, ich meine, die autonome Dysreflexie?», erkundige ich mich. Die Mediziner schütteln den Kopf. Ich nehme es hin. Wenn ich mich rechtzeitig katheterisiere, kann ich dem Blutdruckanstieg zuvorkommen.

Wer oberhalb von Th6, dem sechsten Brustwirbel, eine Rückenmarksverletzung erlitten hat, ist starken Blutdruckschwankungen ausgesetzt. Sind Blase oder Darm zu voll, schnellt der Blutdruck gefährlich in die Höhe.

Im Normalzustand ist er, zumindest bei mir, oft etwas niedrig, nämlich 90/60. Gut und angenehm sind 120/80, bei einem Puls zwischen 60 und 90. Während meiner zweiwöchigen Re-Rehabilitation erreiche ich durchweg diese Idealwerte.

Der diensthabende Assistenzarzt sagt dazu: «Viele Patienten haben während der Hospitalisation erhöhte Vitalwerte.» Die Reha regt also das vegetative Nervensystem an und fordert uns heraus!

Mein wichtigster Wunsch: wieder selbständiger werden

Ende September 2021 sind mir in der rechten Schulter vier Sehnen gerissen. Sie sind es heute noch, denn eine Operation war mir zu riskant und die lange Immobilisierung zu aufwändig.

Seither bin ich weniger selbständig. Pullover und T-Shirts anzuziehen ist für mich kein Problem und abends kann ich mich auch ausziehen. Nur morgens bekomme ich meine Beine nicht mehr in die Unterhose und Hose.

«Das kann doch nicht sein», halte ich der Ergotherapeutin vor. Sie lächelt anteilnehmend, hat schnell begriffen, wo ich nicht weiterkomme. Und sie hat verstanden, dass ich mich im Rollstuhl, also sitzend, anziehen muss. Im Bett geht es nicht, weil sich meine Hüftgelenke nicht genug beugen lassen.

Jeden Tag schlägt die kluge und humorvolle Ergotherapeutin neue Kniffe vor. Schwungvoll aber kriegen wir es nicht hin. Es bleibt ein Murks und hängt von der Tagesform ab. Ein gutes Gymnastikprogramm ist es allemal – doch mit der Körperpflege gehen locker zwei anstrengende Stunden vorbei. Wenn eine Drittperson ein paar Handgriffe übernimmt, dauert es nur eine Stunde.

Es scheint also klar zu sein, dass ich mir helfen lassen muss. Am vorletzten Tag meiner Re-Reha hat mir der Oberarzt auch geraten, zufrieden zu sein mit dem, was ich noch habe. Und dennoch: Ich bleibe dran und versuche, das früher Erreichte wiederzuerlangen.

Update: Wie geht es mir heute?

Meine Re-Rehabilitation war im Januar 2025. Einige Monate später hat sich meine Situation folgendermassen entwickelt: Die Haut am Steissbein ist immer noch leicht gerötet, der spastische Tonus ist unverändert hoch und die Sitzhaltung ist nach wie vor unbefriedigend. Ich habe aber gelernt, es hinzunehmen, wie der Oberarzt empfohlen hat. Auch das ist Re-Rehabilitation.

Etwas hat sich indes verbessert: Ich kann mich wieder selbst anziehen und habe damit etwas Freiheit zurückgewonnen. Es belebt mich, regt den Kreislauf an und ist ein gutes Training. Andere müssen ins Fitness-Center gehen, um das zu erleben.

Teile den Beitrag

Bewertung: 5 / 5

PLG_VOTE_STAR_ACTIVEPLG_VOTE_STAR_ACTIVEPLG_VOTE_STAR_ACTIVEPLG_VOTE_STAR_ACTIVEPLG_VOTE_STAR_ACTIVE
Gib uns Feedback